MZ-Serie MZ-Serie: Gegen den Stadt-Trend

Mücheln/MZ. - Wenn Veit Jäger mal nach Halle muss, versucht er möglichst alle seine Termine auf einen Tag zu legen. "Meistens werden es dann doch zwei", sagt er und lacht. Der Architekt muss seine Baustellen in der Stadt besuchen, er muss zu Ämtern. "Aber ich reiße mich nicht darum, in die Stadt zu fahren. Ich bin jedes Mal froh, wenn ich wieder draußen bin."
Veit Jäger und seine Frau Undine Hannemann leben auf dem Land. In Mücheln, einem Ortsteil von Wettin, hat der Architekt die alte Dorfkirche von 1780 zu einem Wohnhaus ausgebaut. Der Umzug in den nördlichen Saalekreis war eine bewusste Entscheidung. Mehrere Gründe kamen zusammen. Da ist das Haus, "eine Herausforderung für jeden Architekten", meint der 41-Jährige. Er wollte etwas Altes, zum Sanieren. "Das bekommt man auch in der Stadt, aber in der Regel teurer als hier draußen."
Da sind die persönlichen Lebensverhältnisse. Irgendwann, erzählt Veit Jäger, habe er gemerkt, dass er die Stadt und ihre Angebote - Clubs, Kino, Theater - nicht mehr so nutze, "dass es sich gelohnt hätte, dort zu leben". Zumal es ihn an Wochenenden schon immer raus aus Halle zog. Undine Hannemann sagt: "Ich hatte immer geglaubt, ich bin ein Stadtmensch. Aber die Prämissen ändern sich." Mittlerweile hat das Paar zwei Kinder, Runa (2) und den wenige Wochen alten Wolf Magnus. An Clubs, Kino, Theater ist da ohnehin nicht mehr zu denken, vorerst jedenfalls. Natürlich, sagt die Künstlerin, müsse man gerne in der Natur sein. "Wer diese Affinität gar nicht erst hat, der würde wohl auch nicht auf die Idee kommen, aufs Land zu ziehen."
Veit Jäger und Undine Hannemann sind, wenn man so will, Teil einer Gegenbewegung. Sie trotzen einem Trend, der da heißt: zurück in die Stadt. Sowohl im vorigen Jahr als auch 2010 haben in Sachsen-Anhalt lediglich Halle und Magdeburg unterm Strich leichte Zuwächse an Einwohnern verbucht. Das Land dagegen hat an Bevölkerung verloren.
Aber: Stadt-Land, was heißt das schon? Wenn man wohnt wie die Familie aus Mücheln, sind die Unterschiede nicht groß, zumindest was die Entfernungen angeht: "Ich bin von hier draußen in 20 Minuten in der Innenstadt von Halle", sagt Veit Jäger. "Das ist nicht weiter als mancher Weg innerhalb der Stadt." Je nach Ausgangspunkt und Ziel innerhalb Halles oder Magdeburgs stimmt das sogar. Jäger hat einen Trumpf - wie alle Pendler aus dem nördlichen Saalekreis: Die A 14 ist nicht weit. Darauf legt er Wert. "Noch weiter draußen möchte ich nicht wohnen."
Eine gute Verkehrsanbindung weckt auch andernorts das Interesse junger Familien, etwa in Marke. Das 346-Einwohner-Dörfchen, ein Ortsteil von Raguhn-Jeßnitz im Kreis Anhalt-Bitterfeld, liegt ruhig im Grünen, aber unweit der A 9. "Natürlich spielt das eine Rolle", sagt Ortsbürgermeister Frank Hildebrandt.
Ein in den 90er Jahren ausgewiesenes kleines Wohngebiet ist mittlerweile voll - zwei Hände voll Familien haben dort laut Hildebrandt ihre Häuschen gebaut. Die gute Lage, die Nähe zum Job und günstige Grundstückspreise hätten es möglich gemacht. Derzeit wartet in Marke ein zweites Wohngebiet auf die Erschließung. Den Bebauungsplan gibt es bereits. Und Hildebrandt verzeichnet etliche Nachfragen von Interessenten, die alte Bausubstanz zu Wohnzwecken umbauen wollen. Zudem gebe es immer wieder junge Leute, die auf dem Anwesen ihrer Eltern bauen wollten.
Dass deutlich mehr als 50 Prozent der Marker der Altersgruppe bis 40 Jahre angehören, liegt allerdings nicht an vielen Bauwilligen, sondern an dem Asylbewerberheim im Ort: 116 der 346 Einwohner sind laut amtlicher Statistik Ausländer, nur 14 davon sind 41 und älter.
Klar ist allerdings: Ohne Auto geht nichts, weder in Marke noch anderswo auf dem Land. Der nächste Supermarkt in Mücheln? Gut, das sind nur 200 Meter in Richtung Nachbarort Wettin. "Aber der hat immer nur das, was man gerade nicht braucht", sagt Undine Hannemann. Die Kita ist in Wettin, vielleicht zwei Kilometer weg, dort befinden sich auch eine Grundschule und ein Gymnasium. Die nächste Sekundarschule liegt in Wallwitz jenseits der A 14, ein paar Kilometer entfernt.
Die Familie hat mittlerweile zwei Autos. Für Undine Hannemann war das zunächst eine Umgewöhnung. Um zum Studium an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle zu kommen, hat sie anfangs, noch ohne Kinder, meist den Bus genommen. Je nach Linie braucht der auch nur eine halbe oder eine Dreiviertelstunde. In Halle hat die 28-Jährige viele Wege zu Fuß erledigt. "Das fehlt mir manchmal." Ihr Mann hat festgestellt: "Wenn man auf dem Land lebt, bewegt man sich tatsächlich weniger, weil man wirklich für jeden Weg das Auto nimmt."
Die Fahrerei nehmen sie in Kauf. Denn was bekommen sie dafür: Ruhe, gute Luft und "eine traumhafte Landschaft und viel Freiraum", schwärmt Veit Jäger. "Hinter unserem Grundstück ist nichts" - nur ein Hof in Tal, dort wohnt sein Bruder. Die schöne Lage zieht viele Neugierige an. Sie werden gelockt von einem Schild "Picknick am Wegesrand" am Saale-Radwanderweg, der direkt neben dem Grundstück vorbeiführt. Dort hat die Familie noch bis Ende Oktober an den Wochenenden ein Gartencafé samt Galerie in der Kirche eingerichtet. Undine Hannemann steht in der Küche, um Kuchen und Torten zu backen. Mit Früchten aus dem eigenen Garten. "Es läuft richtig gut", freut sich Hannemann, für die das Café "mein Spielzeug" geworden ist. Im kommenden Jahr wollen sie es wieder öffnen.
Schon der Ausflügler wegen lässt sich in Mücheln allerdings nicht zurückgezogen leben. "Man kann hier draußen nicht anonym bleiben", sagt Undine Hannemann. Dazu ist der Ort mit seinen 113 Einwohnern zu klein. Jäger zählt die Nachbarn auf: "Vier Häuser in unserer Straße, da unten", er macht eine Handbewegung in Richtung Saaletal, "noch einmal drei." Das ist alles. Sie schätzen diese Nähe: "Man kann sich darauf verlassen, dass immer ein Nachbar da ist, wenn etwas ist", sagt Undine Hannemann. Wie um es zu beweisen, tritt ein älterer Herr durchs Gartentor, grüßt freundlich und fragt, ob die Malerin ein Bild für eine Kunstauktion beisteuern könnte. Sie kann.
Es ist eine Offenheit, die auch Veit Jäger sofort gespürt hat, als er vor zehn Jahren das alte, bereits in den 1960er Jahren entweihte Gotteshaus übernahm. "Die Kirche und das Grundstück waren völlig vermüllt", erinnert er sich. "Es war von Anfang an so, dass die Nachbarn Hilfe angeboten haben. Das war einfach das Interesse daran, dass es schöner wird im Dorf, dass dieser Schandfleck verschwindet." Was ja auch gelungen ist.