Lothar Rochau Lothar Rochau: Anfang eines zähen Endes
Halle/MZ. - "56 / 2 fertig machen", schnarrt es in die Gefängniszelle. "Gesicht zur Wand." Immer hört Lothar Rochau diese Sätze, wenn er aus seiner Zelle im halleschen Stasi-Gefängnis "Roter Ochse" zum Verhör in das Zimmer 33 gebracht wird. Und immer wieder sind es die selben Fragen, die selben Vorwürfe, die ihm nach seiner Verhaftung am Morgen des 23. Juni 1983 vorgehalten werden: staatsfeindliche Hetze, ungesetzliche Verbindungsaufnahme, Herabwürdigung der staatlichen Organe.
Aber Rochau, damals 30 Jahre alt und als Diakon in Halle-Neustadt tätig, hat nichts zu gestehen. "Wir wollten mit unserer Jugendarbeit natürlich auch Fragen ansprechen, die alle in diesem Land interessierten." Und: "Wir ließen uns vom Staat nicht vorschreiben, was religiös ist." So sind es Diskussionen und Konzerte, Werkstatt-Tage und Umweltprojekte, die der Geistliche im Rahmen der Offenen Jugendarbeit initiiert. Und die dem Staat ein Dorn im Auge sind.
Kirche lässt ihn fallen
Doch nicht nur ihm. Auch die evangelische Kirche entzieht Rochau Anfang 1983 den Schutz und kündigt ihm - nur wenige Monate später erfolgt seine Verhaftung. Es ist das erste Mal seit dem Kirchenkampf der SED in den fünfziger Jahren, dass wieder ein Vertreter der Kirche hinter Gitter kommt.
Rückblende: Es ist das Jahr 1983, als die Friedensbewegung "Schwerter zu Pflugscharen" in der DDR entsteht und Friedrich Schorlemmer in Wittenberg spektakulär ein Schwert umschmiedet. Man traut sich jetzt was, die Fragen werden kritischer. Und es ist der Juni 1983, als Rochau und andere Hallenser mitten im Chemiebezirk eine Umweltdemo per Fahrrad veranstalten.
Die Reaktion folgt prompt. Rochau wird rund um die Uhr und ganz offen observiert. Selbst beim Joggen begleiten ihn Geheimdienstler auf dem Klappfahrrad. "Da wir in Halle im Gegensatz zu den Gruppen in Jena oder Berlin ausdrücklich auf Kontakte zu Westjournalisten verzichteten, waren wir nicht geschützt", so Rochau.
So wird der Diakon im September nach fünf Tagen Verhandlung vor dem halleschen Bezirksgericht zu drei Jahren Haft verurteilt. Die Öffentlichkeit ist ausgeschlossen, nur bei der Urteilsverkündung darf der Bischof anwesend sein. Rochaus Freund ist zugleich sein Anwalt. Der heißt Wolfgang Schnur und ist, so erfährt der Gefangene erst viele Jahre später, hochkarätiger Stasi-Mann. Rochau will kämpfen. "Drei Jahre Knast, dachte ich damals, könnte ich durchhalten."
Doch der Westen wird - offenbar durch Kirchenkanäle - informiert. Tagesschau und Tageszeitungen berichten. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt interveniert bei Erich Honecker. Auch die Grünen-Politiker Gert Bastian und Petra Kelly drängen bei einem Treffen mit dem SED-Chef darauf, dass Rochau und die im September 1983 ebenfalls in Halle verhaftete Bürgerrechtlerin Katrin Eigenfeld freigelassen werden. Indes - Honecker gibt nicht klein bei. Katrin Eigenfeld wird zwar entlassen, Rochau, so berichtet auch der "Spiegel", bleibt inhaftiert.
Dieser Artikel, ist sich der Hallenser sicher, rettet ihn. Denn nun geht alles ganz schnell. Über die Haftanstalten in Cottbus und Karl-Marx-Stadt, in denen die politischen Gefangenen sitzen, wird Rochau im Dezember 1983 in den Westen abgeschoben, wo er mit seiner Familie sechs Jahre lang in Darmstadt lebt - und von Agenten des Ministeriums für Staatssicherheit weiter überwacht wird. Als nach dem Mauerfall 1989 viele Menschen westwärts reisen, fährt Rochau zurück in den Osten. Er will erkunden, was aus seinen Freunden geworden ist.
Immerhin hat seine Verhaftung 1983 ganz konkrete Veränderungen in Halle bewirkt. Unter dem Dach der Kirche formiert sich nun endgültig eine politische Opposition, die sich mit Umwelt- und Demokratiefragen beschäftigt und ihren Protest in den Herbst 1989 trägt. "Für etliche war meine Inhaftierung der Anlass, sich politisch zu engagieren", weiß Rochau nach vielen Gesprächen.
Kein Bedauern
Verbittert im Rückblick ist der heute 55-Jährige nicht. 17 Jahre lang hat er nach der Wende als Leiter des halleschen Jugendamtes gearbeitet. "Eine unglaublich spannende Zeit." Nur von der Kirche, sagt er, habe er bis heute keine offizielle Entschuldigung in Sachen Kündigung erhalten: "Eigentlich warte ich darauf noch immer."