Kollektive Lindividualität Udo Lindenberg Konzert in Leipzig 2019 - Rückschau auf sein Leben

Leipzig - „Die Mode kam, die Mode ging / Man war immer noch der King.“ Kaum ist das Publikum aller Altersgruppen am Dienstagabend in der rappelvollen Arena Leipzig mit den Song „Mein Ding“ auf Betriebstemperatur gebracht, offenbart sich im bunten Durcheinander von Gesang, Theater, Zirkus, Varieté und Gitarren- und Schlagzeugsoli die Dramaturgie des Konzertes.
Der 73-jährige Udo Lindenberg blickt zurück, dabei werden die autobiografischen Schlaglichter nicht im stillen Kämmerlein gesetzt. Von Anfang an wimmelt es auf der Bühne gewaltig, die Betonung des Kollektiven könnte nicht wilder sein, neben dem Panikorchester wirbeln sexy Tänzerinnen und der Kinderchor als verkleidete Mini-Lindenbergs.
Udo Lindenberg in Leipzig: Erinnerung an Konzert 1990
„Wir hatten hier schon vor ´89 Freunde, nur damals bestimmten Arschlöcher, wer auf die Bühne kommt!“ Lindenberg erzählt von seinem Leipzig-Auftritt 1990, damals konnte er vor Rührung kaum singen, Sebastian Krumbiegel wird als alter Weggefährte auf der Bühne begrüßt. Mit dem Song „Durch die schweren Zeiten“ wird jener freundschaftliche Halt beschworen, den es braucht, wenn man von „Lady Whiskey“ mit den braunen Augen umarmt wird.
Lindenberg kennt sich aus: „Ich bin mitten auf einem Doppelkornfeld gelandet.“ Seine Texte funkeln nicht vor Poesie, aber Wortschöpfungen wie Gradeaus-Maus, „König von Scheißegalien“ oder Likörelle sind einzigartig. Lindividualität eben. Zeit, ein Produktionsgeheimnis zu verraten: „Wir haben um die 700 Songs geschrieben. Breit schreiben, nüchtern gegenlesen, das ist eine gute Methode“, so Lindenberg, der heute zum gezielten Genuss rät und zu intimen Einblicken bereit ist.
Udo Lindenberg in Leipzig: Für immer Rock´n´Roller
Früher gab es ihn als Bravo-Starschnittposter: „So ein Quatsch!“ Dann, mit ungefähr 50 Jahren, kamen Zweifel: „Soll ich mich mit einem Höckerchen auf die Bühne setzen?“ Zum Glück hat er sich entschieden, ein Rock´n´Roller zu bleiben, jetzt will er den „Club der 100-Jährigen gründen“.
Tatsächlich hat Lindenberg ein Show-Format gefunden, das ihn von der Last der jugendlichen Vitalität befreit. Lässig kann er sein Mikro als Lasso schwingen, kann er seine staksigen Hüftschwünge in den grünen Socken vollführen. Gerahmt wird das Ganze mit voluminösen Gesang, Ina Bredehorn, Nathalie Dorra und Ole Feddersen betreiben eine Modernisierung der Klassiker.
So fließen Soul und Rap in die „Bunte Republik Deutschland“. Das ist nicht nur der Titel eines Albums aus dem Jahre 1989, sondern auch jenes Udopia, dass Lindenberg bis „Hinterm Horizont“ verteidigt. Also wird die Bühne beim Song „Du heißt jetzt Jeremias“ zur Kirche, also werden Männer mit Männern und Frauen mit Frauen vermählt: „Jeden Tag eine gute Tat, wir lockern jetzt das Zölibat!“ Also schickt ein Kinderchor zu „Wozu sind Kriege da“ Gänsehautmomente im Sekundentakt ins Publikum, Staatschefs wie Trump, Putin und Kim Jong Un erscheinen als Puppen, die selbst in den aufgebauten Boxring steigen dürfen.
Udo Lindenberg in Leipzig: Lob für Friday for Future
Also lobt Lindenberg die Radikalität der Fridays for Future-Bewegung. Auffallend, dass sich die Sympathiebekundungen im Publikum an dieser Stelle abkühlen. Über Gründe kann man spekulieren: Hält die Panikfamilie die Schulpflicht für heilig? Wird die Dringlichkeit nicht geteilt? Oder ist der Widerspruch zwischen Appell und der Zurschaustellung von aufblasbaren Palmen, Flamingos und Konfetti aus Plastik zu groß?
Als der Kinderchor aus dem Artikel 1 und 3 des Grundgesetzes vorliest, als „Wir ziehen in den Frieden“ gesungen wird, ist man sich wieder einig. Lindenberg holt zu jenen großen Flügelschlag aus, der vermutlich kriselnden Volksparteien fehlt. Statt im Dienstleistungsmodus mit einzelnen Gesetzen vorstellig zu werden, erinnert er an Woodstock, an die Anti-Atomkraftbewegung, an die ewigen Menschheitsideale von Love and Peace.
Lindenberg geht es darum, dass Utopien und Visionen überhaupt erst einmal Menschen in Bewegung bringen können. Deswegen müssen sie aktualisiert werden: „Wenn einer allein träumt, ist er allein. Wenn viele träumen, wird es Realität.“ Clueso erscheint beim Song „Cello“, dann folgt ein wildes Medley: „Sonderzug nach Pankow“, „Alles klar auf der Andrea Doria“, „Candy Jane“.
Udo Lindenberg in Leipzig: Zweites Konzert schon am Mittwoch
Abschließend bündelt „Goodbye Sailor“ die Magie des Abends, die Leinwand fängt lange Lindenbergs Konterfei in Nahaufnahme ein. Ohne Sonnenbrille sieht man die schwarz umrandeten Augen, verschwitzt und knorrig das Gesicht. Sein zutiefst zufriedener, sein staunender und erschöpfter Blick liegt minutenlang auf dem Publikum.
Melancholie und Euphorie umarmen sich innig, wie eine Naturgewalt reißt es jetzt auch alle Sitzenden von den Rängen. Ein großer Schriftzug geleitet nach zweieinhalb Stunden tröstend in die Nacht: „Keine Panik – wir sehen uns ganz bald wieder!“ Am Mittwochabend legt Lindenberg in der Arena nach. (mz)