DDR-Modetanz DDR-Modetanz: Dieses Paar hat den "Lipsi" wirklich erfunden

Leipzig - Lipsi was? Die Frage nach diesem Tanz würde jede Quizsendung im deutschen Fernsehen schmücken. Denn der DDR-Modetanz hatte nur ein kurzes Leben. Nur wer alt genug ist, wird sich erinnern: „Alle jungen Leute tanzen heute im Lipsi-Schritt“. So sang es Helga Brauer im Jahr 1959.
Erfunden wurde der Lipsi in der Leipziger Tanzschule Seifert. Sie feiert in diesem Jahr ihr 100-jähriges Jubiläum. Bereits die dritte und vierte Generation der Seiferts lehrt hier, unweit des Leipziger Hauptbahnhofs, das Tanzen. Den runden Geburtstag wollen die Betreiber Bodo und Marina Seifert mit einer großen Party begehen.
Ein anderes Jubiläum haben die Seiferts jedoch nicht begangen: Der Lipsi, der Tanz, in dem die DDR-Führung einst den Gegenentwurf zum westlichen Rock ’n’ Roll sah, feiert in diesem Jahr sein 60. Jubiläum. Und ist doch schon fast ganz vergessen.
Lipsi-Tanzstil: Aus der Mode, aus dem Sinn?
Auch in den Räumen der Tanzschule weist kaum etwas auf den Lipsi hin. Eine Zeitreise in die 1950er oder 1960er Jahre kann man hier nicht machen. Zumindest bis Marina Seifert die kleine Schachtel mit Erinnerungsstücken an den Lipsi auf den Tisch legt. Hier drin, liebevoll in Papier eingeschlagen, finden sich all die Heftchen und Bilder aus der Entstehungszeit des Lipsi.
Alle jungen Leute tanzen heute im Lipsi-Schritt - Daraus wurde nichts. Die Tanzschritte waren kurz zuvor im Herbst 1958 von Bodo Seiferts Eltern Helmut und Christa kreiert worden. Der Name Lipsi mutet beim ersten Hören recht exotisch an, was sicherlich auch genauso gewollt war. Tatsächlich wurde er ganz einfach vom lateinischen Namen der Stadt „Lipsiens“ abgeleitet.
Von der Messestadt aus sollte er nicht nur die ganze DDR, sondern die ganze Welt erobern. Nach dem Plan der DDR-Oberen hätte der Osten dem westlichen Rock ’n’ Roll, dem Boogie-Woogie und dem Twist etwas entgegenzusetzen gehabt, das im Gegensatz zum wilden, rohen Gebaren der Jugend bei der Musik von Elvis Presley oder Bill Haley zum Image der wohlerzogenen rundum glücklichen DDR-Jugend passte. Dass es auch im Westen für Aufregung sorgte, wenn sich Jungs und Mädchen diesen heißen Tänzen hingaben, spielte eine untergeordnete Rolle.
Leipziger Lipsi: Was zeichnete den Tanzstil aus?
Der Lipsi befriedigte wie auch Twist und Co. das Bedürfnis der jungen Leute nach gelösten Bewegungen beim Tanzen. Enges aneinander Festhalten war out. Miteinander, aber auch alleine tanzen war in. So sahen es auch Helmut und Christa Seifert, das junge Tanzlehrerpärchen. „Damals herrschte ein reger Austausch in der Szene“, berichtet Bodo Seifert, man habe viele Kontakte gehabt. So auch zum Leipziger Komponisten René Dubianski, der 1958 den ungewöhnlichen Sechsvierteltakt kreiert hatte - die Musik für den Lipsi. „Wie es kam, dass meine Eltern die Tanzschritte dazu erfanden, ist leider nicht überliefert“, erzählt Bodo Seifert, der damals gerade drei Jahre alt war.
Fest steht: Seiferts tanzten die Bewegungen zur Musik miteinander. Aber auch freie Ausdrucksformen, die alleine ohne Partner getanzt wurden, waren im Lipsi möglich. Sich frei im Raum bewegen, so wie man es heute in jeder Diskothek sieht, war bis dahin ein Unding gewesen.
Christa Seifert, ausgebildete Bühnen- und Ausdruckstänzerin, erdachte Solobewegungen, die dem Tanz eine moderne Anmutung verliehen. Das lobten auch die Verantwortlichen der Tanzmusikkonferenz im brandenburgischen Lauchhammer, auf der der Lipsi erstmals einer größeren Öffentlichkeit präsentiert wurde. Dort, mitten im Lausitzer Braunkohlerevier startete der Lipsi seine Karriere.
Tanzschule Seifert & der Lipsi: Eine Erfolgsgeschichte
Als Anerkennung für ihre Erfindung erhielt das Ehepaar Seifert den renommierten Kunstpreis der DDR, kein glänzender Pokal, den man heute in der Tanzschule in einer Vitrine finden könnte, sondern ein Orden zum Anstecken. In einem Blätterkranz sind darauf die Symbole für Musik, Schauspiel und Malerei zu sehen. Die Seiferts bewahren den Orden in einem kleinen Etui mit anderen Lipsi-Erinnerungsstücken auf.
Nach der Tanzmusikkonferenz sollte der Siegeszug des neuen Modetanzes starten. Es sollten möglichst alle jungen Leute Lipsi tanzen, um der westlichen Versuchung des Rock ’n’ Roll zu widerstehen. Und das taten sie. Nicht alle, denn der wilde Hüftschwung eines Elvis Presley war auch in der DDR aufregend genug, um die Jugend zu begeistern. Doch als einen Flop, so wie es immer wieder heißt, sieht Bodo Seifert den Lipsi nicht. „Wie jeder Modetanz hatte auch der Lipsi seine Zeit. Einige mochten ihn, einige nicht“. Ein Modetanz halte sich eben nur ein paar Jahre, erklärt der Tanzlehrer. Schließlich tanze man ja heute auch nicht mehr Lambada, den Modetanz, der Ende der 80er Jahre en vogue war.
Die größten Fans des Lipsi aber saßen in der DDR-Führung, die eine groß angelegte Werbekampagne für den Tanz initiierte, um ihn in jeden Winkel der Republik zu transportieren. So hält sich bis heute das Gerücht, dass es sogar ein weltweites Patent auf den Lipsi gab. Angeblich, weil die DDR-Führung so sicher war, einen echten Exportschlager entdeckt zu haben. „Was, ein Patent? Das habe ich ja noch nie gehört“, lacht Marina Seifert. „Meine Eltern haben sich über die Wertschätzung gefreut. Schließlich bedeutete der Kunstpreis und die Empfehlung der DDR-Kulturpolitiker auch eine Menge Prestige für die Tanzschule“, erinnert sich Bodo Seifert.
"Walter Ulbricht hat die Erfindung des Lipsi nicht angestoßen!"
Was die Eltern Seifert jedoch sehr ärgerte, war das Gerücht, dass der Anstoß für die Erfindung des Lipsi von Staats- und Parteichef Walter Ulbricht höchstselbst gekommen sein soll. „Walter Ulbricht hat den Lipsi nicht angeregt. Wie jeder Modetanz wurde er von kreativen Tänzern erfunden“, widerspricht Tanzlehrer Seifert energisch. „Die DDR-Führung hat ihn sich zu Propagandazwecken zu eigen gemacht, wie so vieles in dieser Zeit und später immer wieder.“
Wohl der Anfang vom Ende. Auch wenn das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ vom Lipsi schwärmte, „das Bewegungsbild ist voller Harmonie und mit seinem Lösen und Wiederfinden der Partner, mit seinen Solodrehungen ganz und gar modern“, konnte sich der Lipsi, abgesehen von einer kurzen Zeitspanne Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre, nicht gänzlich durchsetzen. „Das lag zum einen daran, dass es für einen Modetanz eben immer die passende Musik geben muss“, erklärt Bodo Seifert.
Bis auf Helga Brauer, die Flamingos, die Martin-Möhle-Combo und das Rundfunk-Tanzorchester Leipzig gab es kaum musikalische Vertreter des ungewöhnlichen Sechsvierteltaktes. Anders als beim Rock ’n’ Roll folgten einfach keine neuen Musiktitel, die den Tanz am Leben hätten halten können. Kaum hatten die Eltern Seifert den Lipsi erfunden und eine kurze Zeit in ihrer Tanzschule gelehrt, folgte für die beiden schon der nächste Modetanz: der Pertutti. Dank des Austauschs unter den Tanzschulen wurden beide Leipziger Modetänze in der ganzen DDR getanzt.
Für Seiferts drehte sich die Zeit im Tanzschritt weiter. Der Lipsi brachte den beiden Erfolg und Prestige, aber traurig darüber, dass er sich nicht durchsetzte, waren sie nie. „Der Lipsi war nur ein kleines Kapitel in der langen Geschichte der Tanzschule Seifert, aber weit mehr als nur eine Anekdote“, meint Bodo Seifert.
Heute lächeln Helmut und Christa von einem alten Foto, das an der Wand in der Tanzschule hängt, zufrieden auf die sich immer noch zur Musik drehenden Tanzpaare hinunter. Auch wenn nur noch selten der Lipsi getanzt wird. Die erfolgreiche Tradition der Seifertschen Tanzschule setzt die Familie bis heute in Leipzig fort. (mz)

