60 Jahre Blitzer 60 Jahre Blitzer: So hilft eine Leipziger Firma Autofahrern, ein Bußgeld zu umgehen

Leipzig - Erst kommt der grelle Lichtblitz. Dann das Erschrecken und der heftige Tritt auf die Bremse. Gefolgt vom panischen Blick auf den Tacho. Wie viel zu schnell war ich?
Das steht dann in dem Brief, der kurze Zeit später eintrudelt, drinnen ein Anhörungsbogen und ein Frontalporträt des Fahrers hinterm Steuer. Seit 60 Jahren lauert sie entlang der deutschen Straßen, inzwischen zum Teil so geschickt getarnt, dass der ahnungslose Autofahrer hineinrasen muss: Der im Polizeideutsch „Gebühreneinzugsmaschine“ genannte Starenkasten, der seine Premiere am 21. Januar 1957 in Düsseldorf feierte, hat sich von einem bestaunten Exoten zu einer Gelddruckmaschine entwickelt, die Städten und Landkreises alljährlich hunderte Millionen Euro in die Kassen spült.
Blitzer in Deutschland: Fast 5.000 feste und mobile Anlagen im Land
Mit dem ersten Blitzer, einem Radargerät mit eingebautem Blitzlicht, das die Firma Telefunken 1956 vorstellte, begann die Ära von fest montierten „Starenkästen“ und mobil aufgestellten Tagesfallen. Seitdem ist niemand mehr sicher, überall können sie stehen und jeden Moment losgehen.
Während Länder wie Schweden ihre Blitzer bewusst ankündigen, um Autofahrern Gelegenheit zu geben, ihr Fahrverhalten an die Geschwindigkeitsvorgaben anzupassen, stehen deutsche Kommunen im Verdacht, am liebsten nicht dort zu blitzen, wo es nötig wäre. Sondern genau da, wo es am meisten einbringt. Fast 5.000 feste und mobile Blitzanlagen halten derzeit an deutschen Straßen Wacht, die meisten davon an der B 27 zwischen Blankenburg und Donaueschingen. Auf deren 600 Kilometern Länge könnte es ein gewiefter Schnellfahrer 70 Mal in Serie blitzen lassen. Mehr als drei Millionen Mal lösen die Automaten jährlich tatsächlich aus - drei Millionen Briefe mit drei Millionen Verwarngeldangeboten oder Bußgeldbescheiden sind die Folge.
Ein gewaltiges Ärgernis für Autofahrer. Aber auch ein riesiger Markt, wie der Leipziger Jurist Christoph Lattreuter schon vor fünf Jahren erkannte. „Ich hatte damals die Idee, Datenbanken zu nutzen, um wie am Fließband arbeiten zu können.“ Schließlich, beschreibt der 42-Jährige mit Berufserfahrung in der Multimediabranche, funktioniere auch Rechtssprechung im Grunde nach Algorithmen wie ein Computerprogramm. „Beweis oder kein Beweis, schuldig oder nicht schuldig“, sagt der Manager der Leipziger Kanzlei WKR, „es geht letztlich um Null und Eins wie in der Datenverarbeitung.“
Internetseite geblitzt.de: 35.000 Bußgeldverfahren im Jahr 2016 eingereicht
Beim Rotwein beschrieb er einem Bekannten aus der IT-Branche seine Idee eines sogenannten Legaltech-Unternehmens - „legal“ steht im Englischen für Recht -, das seine Fälle datenbankgestützt abarbeitet. „Es dauerte dann noch mal anderthalb Jahre, bis wir starten konnten.“ Seitdem hat sich die Internetseite geblitzt.de, hinter der Lattreuters schlaue Algorithmen rechnen, im Eiltempo zu Deutschlands größtem Legaltech-Unternehmen gemausert. Aus ein paar hundert Bußgeldverfahren, die anfangs rechnergestützt durchgefochten wurden, waren im vergangenen Jahr schon rund 35.000 geworden, die über die Tische der drei Partnerkanzleien in Düsseldorf, Leipzig und Zerbst (Anhalt) gingen.
„Und unsere Erfolgsquote liegt bei 30 bis 33 Prozent“, beschreibt Lattreuter, zusammen mit dem Berliner Jan Ginhold Gründer der Firma Coduka, die geblitzt.de heute betreibt. In fast einem Fünftel aller Fälle gelinge es sogar, eine komplette Einstellung des Bußgeldverfahrens zu erreichen, ergänzt Detflef Grube, der am WKR-Standort in Zerbst inzwischen 5 500 Fälle im Jahr bearbeitet. „Früher, als noch keine Mandanten über geblitzt.de kamen, waren es kaum hundert.“ Fünfzig mal mehr geblitzte Autofahrer vertreten zu können, das sei nur möglich, „weil die Datenbank uns nicht nur viel immer gleiche Routinearbeit erspart, sondern weil sie zugleich unsere Möglichkeiten vermehrt, Angriffspunkte in Bußgeldbescheiden zu finden“, sagt Christoph Lattreuter.
Durch die Vielzahl der Verfahren kann die Analysesoftware in den anonymisierten Datenbeständen, die auf zwei gesicherten Servern in einem Rechenzentrum in Frankfurt am Main stehen, Muster erkennen.
Im elektronischen Geblitzt-Gehirn hat jeder einzelne Blitzer, den es in Deutschland gibt, eine Nummer, seine Schwachstellen sind vermerkt, frühere Fälle, deren Ausgangspunkt und Ende. „Wenn der gleiche Blitzer am gleichen Ort den gleichen Vorwurf beweisen soll, wissen wir, mit welcher Argumentatation wir das letzte Mal für einen Mandanten erfolgreich waren.“ Manchmal sind es nach dem Wechsel von Sommer- auf Winterreifen nicht neugeeichte Messgeräte, mal entspricht der Reifendruck am Messfahrzeug nicht den Vorschriften, mal hat der Messbeamte keinen Schulungsnachweis, mal wurden im Messfahrzeug falsche Kabel verbaut. „Unsere Datenbank verrät uns Schwachstellen, die nur durch Häufung auffallen können.“
Dabei geben sich die Blitzableiter aus Leipzig und Zerbst alle Mühe, es ratsuchenden angeblichen Rasern und Rote-Ampel-Überfahrern einfach zu machen. „Jeder kennt das ja von sich selbst“, erklärt Lattreuter, „wenn das Knöllchen im Briefkasten steckt, ist man froh, wenn die Summe nicht so hoch ist und man keine Punkte aufgebrummt bekommt.“ Meist werde dann anstandslos gezahlt, quasi noch mit dem erleichterten Gefühl, glimpflich davongekommen zu sein.
geblitzt.de: Automatisierte Prüfung der Bußgeldbescheide
Ob das Bußgeld aber eigentlich berechtigt war oder ob es nicht vielmehr eine reelle Chance gegeben hätte, Einspruch einzulegen, wird nicht mehr geprüft. „Niemand geht doch wegen 30 oder 80 Euro und einem Punkt zum Anwalt.“
Bei geblitzt.de muss er das auch nicht. Wie die Bearbeitung der Fälle ist auch die Beauftragung durch die Mandanten automatisiert. „Anhörungsbogen, Bußgeldbescheid und ausgefüllte Vollmacht werden an uns geschickt, hier in die Datenbank eingelesen und analysiert, anschließend entscheidet ein Anwalt nach Prüfung der Empfehlungen der Software, ob es Sinn hat, Einspruch einzulegen“, schildert Christoph Lattreuter. Sind die Erfolgaussichten, die der Algorithmus prognostiziert, zu gering, wird der Mandant informiert. Stehen Software und Anwalt gute Chancen, wird ein Fall draus. „In beiden Fällen aber ist das für den Autofahrer kostenlos“, sagt der Legaltech-Pionier, „auch wenn wir verlieren, kostet es nichts - und erst recht nicht, wenn wir gewinnen.“ Weil dann die Behörde zahlen muss, die das Verfahren angestrengt hat. Seit Mai letzten Jahres schon geht die Rechnung nicht nur für die Autofahrer auf, sondern auch für geblitzt.de. „Wir schreiben heute schon schwarze Zahlen“, sagt Lattreuter.