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Längst vergessene Schlachten Längst vergessene Schlachten: Als der Krieg nach Mitteldeutschland kam

Von steffen könau 09.05.2015, 15:53
Kilometer durch Feindesland: Obwohl der Krieg entschieden war, kamen die US-Truppen nur kämpfend voran.
Kilometer durch Feindesland: Obwohl der Krieg entschieden war, kamen die US-Truppen nur kämpfend voran. 69Th Infantry Lizenz

Halle (Saale) - Vom Omaha-Beach in der Normandie bis nach Bündorf, einem kleinen Dorf ganz in der Nähe von Merseburg, waren Korporal George Waterman und Private Phil Bornstein wohlbehalten gekommen. Ausgerechnet hier aber verlässt die beiden US-GIs und ihre Kameraden Louis DesHaies und Calvin Everheart das Soldatenglück. Nach einer Nacht in einem Schuppen stellen die vier Männer des 741. Panzerbataillons fest, dass ihre Einheit abgezogen ist. Waterman befiehlt, sich Waffen auf einer Verwundeten-Sammelstelle zu suchen und dann zurück zu marschieren, um ihr 741. wiederzufinden.

Es ist Mitte April 1945, der Krieg ist im Grunde zu Ende. Nur nicht hier in Mitteldeutschland, wo er gerade erst angekommen ist. Ende März hatten die 1. und die 9. US-Armee südlich und nördlich des Harzes mit einem Vorstoß nach Osten begonnen. Ihnen gegenüber steht die 11. Armee der deutschen Wehrmacht, ein neuer Verband aus Reservisten, Jugendlichen, geschlagen aus dem Ruhrkessel entkommenen Einheiten und mehr oder weniger genesenen Verwundeten.

Nichts mehr zu verteidigen

Es gibt für diese deutschen Soldaten nichts mehr zu verteidigen. 250 Kilometer weiter im Osten rückt die Sowjetarmee an, deren Vormarsch nur noch von den vor ihr fliehenden Flüchtlingsmassen verlangsamt wird. Auf die rund 100.000 Mann des deutschen Artilleriegenerals Walther Lucht marschieren aus dem Westen fünfmal so viel Alliierte zu. Und doch finden in diesen letzten Tagen des Krieges zwischen Wernigerode und Nordhausen im Westen und Halle und Dessau im Osten unvorstellbar grausame Schlachten statt. Keine um ganze Landstriche oder Städte, keine, bei denen hunderte Panzer und tausende Männer aufeinanderprallen. Sondern erbitterte Gefechte um Kreuzungen, Hügel, Dörfer und einzelne Häuser, bei denen trotzdem noch einmal tausende Soldaten und unzählige Zivilisten sterben.

Korporal George Waterman und seine Leute treffen ihr Schicksal in Burgstaden, heute ein Ortsteil von Bad Lauchstädt. Als sie aus dem Wald treten, stehen die vier Amerikaner mitten in einer deutschen Flak-Stellung. Waterman zögert nicht, er schießt. Ein deutscher Soldat schießt zurück. Waterman tötet ihn, auch seine drei Kameraden schießen nun und treffen zwei Deutsche. „Dann kamen Krauts aus allen Löchern mit den Händen über den Köpfen“, berichtete Waterman später. Ein Leutnant tritt auf ihn zu und übergibt seine Pistole. „Das war die offizielle Kapitulation der Garnison.“ Watermans Trupp hat 100 Gefangene gemacht. „Wir waren verdammt stolz.“

Es ist eine der Kriegsgeschichten aus Mitteldeutschland, die gut ausgehen, zumindest für die meisten Beteiligten. Doch sie wiegt die Schrecken und das Grauen nicht auf, das die letzten Kriegstage in einem Land beherrscht, das nur drei, vier Autostunden weiter westlich faktisch schon Frieden hat. Im Harz, im Harzvorland und im Tiefland bis zu Mulde und Elbe hin aber verschiebt ein desorientiertes deutsches Oberkommando immer noch Einheiten wie die Division „Scharnhorst“ auf Karten hin und her, um geschlossene Verteidigungslinien zu bilden. Dabei bestehen Regimenter nur aus Bataillonen, Kompanien aus Zügen ohne Munition und schwere Waffen.

Auf Seite 2 lesen Sie, wo sich die Truppen die schwersten Gefechte lieferten und wie ein deutscher Offizier seine verwundete Einheit von den Amerikanern verarzten lässt, um wenig später erneut gegen sie zu feuern.

Ob es wie in Eisleben oder Artern zu einer friedlichen Übergabe der Stadt kommt, oder wie in Rübeland, Köthen und Aken schwere Gefechte den Vormarsch der US-Truppen begleiten, liegt jetzt meist nur daran, wer die Verantwortung trägt. In Artern etwa werden die Brüder Fritz und Paul Zimmermann vom Kampfkommandanten Südmersen zum Tode verurteilt, weil sie gegen eine Verteidigung der Stadt sind. Brücken werden gesprengt, Panzersperren errichtet. Doch als die Panzer des 19. US-Tankbataillons sich nähern, fällt nur ein Schuss. Die meisten Verteidiger sind bereits geflüchtet - wie auch die Zimmermann-Brüder, die so der Todesstrafe entgehen.

Kampf oder Kapitulation?

Kämpfen wie befohlen, oder auf den eigenen Verstand hören und die Waffen strecken - manchmal zerreißt es sogar einzelne Offiziere wie den bei Merseburg stationierten Flak-Oberleutnant Jakob. Als dessen Einheit mehrere Amerikaner in die Hände fallen, erlaubt er den US-Soldaten auf Bitten des deutschstämmigen GI Henry Gross, ihre Verwundeten zur Behandlung zu den US-Stellungen auf der gegenüberliegenden Feldseite zu bringen. Sie müssen nur anschließend freiwillig wieder zurückkehren. Derselbe Oberleutnant Jakob allerdings zwingt seine eigenen Leute wenig später mit gezogener Waffe, weiter auf die US-Truppen zu schießen, obwohl die jede deutsche Granate mit einem Dutzend Geschosse beantworten.

Es sterben jetzt Männer bei Gefechten an Orten, die strategisch keinen Schuss Pulver wert sind. Elend, Tanne und Schierke im Harz, wo sich die abgeschnittenen Reste der 11. Armee versteckt halten, erleben Straßenkämpfe. Aus Kompanien werden jetzt „Kampfgruppen“ ohne zentrale Führung. Die versuchen, schießend zu einem Ziel zu gelangen, das sie selbst nicht kennen. In Warnstedt bei Thale etwa befiehlt Leutnant Friedrich Bausch den letzten 35 Fallschirmjägern der 5. Fallschirmjägerdivision, sich in erbeuteten US-Lastwagen nach Berlin durchzuschlagen. Die Truppe bleibt im Stau der Flüchtlinge stecken. US-Panzer beschießen den Troß, ein Munitionswagen wird getroffen. 21 Männer sterben und nahezu ganz Warnstedt wird in Trümmer gelegt. Am nächsten Tag ergeben sich die überlebenden Fallschirmjäger.

Nur langsam kommen die Einheiten des kommandierenden US-Generals Omar Bradley voran. Selbst Städte wie Halle, die sich ergeben, tun das oft nicht ganz: Im Gegensatz zur Legende, nach der der berühmte Graf Luckner Halle rettete, toben auch in den Straßen hier fünf Tage lang schwere Gefechte. Dann erst haben die Männer des 817. Panzer-Zerstörer-Bataillons die letzten Verteidigungsnester im Süden der Stadt ausgeschaltet.

Kämpfe bis zur letzten Minute

Der Tod packt zu, wo er kann. In Aken öffnen ein paar Frauen den US-Truppen eine Panzersperre, doch ein Hitlerjunge feuert auf den ersten Panzer. Oberstleutnant Samuel Hogan von der 3. Panzerdivision lässt seine Männer nun durch die Häuser vordringen - zwei deutsche Soldaten geraten ins Schussfeld. Sowohl der Unteroffizier Werner Schulz als auch sein Kamerad Gerhard Todte sterben.

In den letzten Augenblicken gibt es keine Richtung mehr und keine Aufgabe. Bei Thurland in der Nähe von Raguhn treten Grenadiere des Regiments „Hutten“ zur letzten deutschen Offensive dieses Krieges an. Sie kommen mit Panzern, mit Geschützen, sie überraschen die Soldaten des 32. US-Infanterie-Regiments. Zwei Uhr nachts ist Thurland in deutscher Hand. Erst am Abend des nächsten Tages können die zu Hilfe gesandten Soldaten des 82. Bataillons den Ort wieder befreien. Oder das, was davon übrig ist: 70 Prozent der Häuser sind zerstört, 62 Amerikaner, 48 deutsche Soldaten und elf Einwohner bleiben tot auf einem Schlachtfeld zurück, das heute längst vergessen ist. (mz)

Frontverlauf vom 4.April bis 7. Mai 1945.
Frontverlauf vom 4.April bis 7. Mai 1945.
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