Altes Handwerk in Bad Schmiedeberg Altes Handwerk in Bad Schmiedeberg: 140 Jahre Seile drehen

Bad Schmiedeberg - Es war das Jahr 1879, als Adolf Viktor Sieracki in Schwetz an der Weichsel im damaligen Preußen eine Seilerei gründete. Heute, 140 Jahre später und mehr als 400 Kilometer weiter westlich, feiert eben diese Seilerei ihr Jubiläum. Aus Sieracki wurde im Laufe der Jahre der Name Prutz, den das Geschäft bereits seit 1920 trägt, als es während der Zeit des Polnischen Korridors nach Bad Schmiedeberg umsiedelte.
Betrieb vergrößert sich
„Was genau meinen Vorfahren nach Bad Schmiedeberg trieb, weiß ich auch nicht genau“, sagt die Urenkelin Simone Albrecht, geborene Prutz, heute. Jahrelang residierte das Unternehmen in der Leipziger Straße in Bad Schmiedeberg, noch heute säumt der Schriftzug „Seilerei Prutz“ die Hausfront. Doch letztes Jahr zog der Betrieb um in das Gebäude eines Supermarktes. „Es ist uns im alten Gebäude einfach zu eng geworden“, sagt Thomas Albrecht, der heute als Schwiegersohn von Bernhard Prutz die Geschäfte der Seilerei leitet.
In den 1950er Jahren, als sein Schwiegervater den Betrieb übernahm, war die Nachfrage groß, doch es fehlte an Materialien
und Maschinen, mit „Engagement und Improvisationsvermögen“ sei es ihrem Vater trotzdem gelungen, ein leistungsfähiges Handwerksunternehmen aufzubauen, schreibt die Familie in einer Chronik. Bis zur Wende produziert die Seilerei Bindfäden, Packfäden und Wäscheleinen.
„1990 gab es dann über Nacht Auftragsstornierungen“, sagt Thomas Albrecht. „Kaum hatten die Leute D-Mark in den Händen, hatten sie Besseres zu tun, als Wäscheleinen und Bindfäden zu kaufen.“ Die gab es ohnehin billiger aus den osteuropäischen Nachbarländern.
Der Betrieb wurde grundlegend umgebaut - und fand schließlich seine Nische: Spielplätze. Seilbrücken, Klettergerüste, Tornetze und Seilgärten. „Wir sind in unserer Nische zu einer gewissen Perfektion gelangt“, sagt Thomas Albrecht.
Während der Markt um Trage- und Hebeseile hart umkämpft sei, gebe es im Geschäft mit den Spielgeräten weniger Konkurrenz. Dabei habe es auch geholfen, dass der Kinderspielplatzgerätehersteller SIK-Holz im Fläming viele Seilkomponenten bei den Bad Schmiedebergern bestellt. Das Unternehmen kann sich heute vor Aufträgen kaum retten, sagt Thomas Albrecht. Die Offerten kämen in Hülle und Fülle, besonders Niederländer und Dänen seien geradezu verrückt nach Seilen.
Moderne Materialien
Freilich haben die heutigen Produkte nicht mehr viel mit den Hanf- oder Rosshaarseilen zu tun, die ihr Urgroßvater damals knüpfte und drehte, sagt Simone Albrecht. Die Produktbeschreibungen im Prospekt lesen sich auch wesentlich technischer, enthalten meist Polyester oder Polypropylen, das dann auch in Hanf- oder Kokos-Optik verkauft wird.
Außerdem sind die heutigen Seile durchschneidesicher, dank eines eingewobenen Drahtes. „Das soll Beschädigungen an den Spielplätzen verhindern“, ergänzt Sohn Markus Albrecht. Der 31-Jährige wird eines Tages das Geschäft übernehmen. Er ist Seilermeister und wird die sechste Generation der Familie repräsentieren.
Die Seile selbst werden inzwischen in Bremen oder Hamburg gefertigt, das Unternehmen in Bad Schmiedeberg baut mit entsprechenden Stahl- oder Plastikverbundstücken daraus die gewünschten Netze und Kletterelemente. „Früher“, erzählt Simone Albrecht, „da haben meist Frauen in der Seilerei gearbeitet.“ Die Arbeiterinnen standen im Freien, drehten und wickelten die dünnen Bindfäden oder Wäscheleinen.
Die dicken Taue, die heute der TÜV-Prüfung und der anschließenden Belastung von hunderten Kindern standhalten müssen, sind hingegen deutlich schwerer, ergänzt ihr Sohn. Das mache die Arbeit körperlich anstrengend, das Drehen der dicken Seile brauche starke Hände. Vielleicht auch deswegen hat es der Betrieb mit derzeit 25 Mitarbeitern auch etwas schwer, Nachwuchs zu finden.
„Dabei braucht man immer Seiler. Auch in Autos sind schließlich Drahtseile verbaut“, sagt Sohn Markus Albrecht. Mindestens einen Auszubildenden will der Betrieb gerne einstellen.
Deswegen - und auch weil der Betrieb seine neuen Räumlichkeiten den Bad Schmiedebergern vorstellen möchte, öffnet die Seilerei am heutigen Mittwoch von 10 bis 15 Uhr für Besucher. Wer mag, kann sich auch im traditionellen Seilerhandwerk ausprobieren.
››Adresse: Lindenstraße 55,
06905 Bad Schmiedeberg
Das Seil
Die Menschheit nutzt die Kombination aus Zugfestigkeit, Elastizität und Biegsamkeit, die einem Seil innewohnt, mindestens seit der Mittelsteinzeit - damals oft zusammengedreht aus Weidebast. Insbesondere für Aufzüge, Kräne sowie für die Seefahrt sind Seile auch heute nicht wegzudenken. Bei letzterer heißt es natürlich niemals Seil, sondern Tauwerk. (mz)