Nur der Ingenieur zählt Nur der Ingenieur zählt: Warum die DDR-Alterszusatzversorgung nur wenigen nützt

Hebra - Gerhard Filary ist gerade acht Jahre alt, als er sein erstes Radio bastelt. Damit holt der Helbraer 1945 ein Stück der großen weiten Welt ins Mansfelder Land. Auf den Apparat ist der heute 81-Jährige noch immer ein wenig stolz. Auch wenn er im späteren Arbeitsleben an wesentlich bedeutsameren Dingen „gebastelt“ hat.
Gerhard Filary studiert Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in Leipzig Physik, legt sein Diplom ab, promoviert später an der Martin-Luther-Universität Halle. Beruflich fasst er, nach einem kurzen Ausflug ins Lehramt, in der Forschungsabteilung des VEB Walzwerk Hettstedt Fuß. Dort ist es seine Aufgabe , wissenschaftlich-technische Erkenntnisse der Grundlagenforschung in die Praxis zu überführen.
Eine Angelegenheit, die weit über das Hettstedter Werk von Bedeutung ist. So wird Gerhard Filary von der Akademie der Wissenschaften der DDR in eine Arbeitsgruppe berufen, die Magnetresonanztomographen (MRT), also Geräte, mit denen Ärzte innere Organe begutachten können, bauen soll. Sein Part bei der streng geheimen Mission ist es, Kupferbänder für die Magnete herzustellen. Und Kupferfeinstdrähte.
Helbraer half bei Entwicklung neuer Verfahren zur Verarbeitung von Buntmetallen
Bei einem anderen Projekt geht es um ein Verfahren, bei dem diamantähnliche Beschichtungen für Werkzeuge entstehen, die deren Haltbarkeit um eine Vielfaches verlängern. Heute werden sie auch in der Medizin genutzt - nämlich zur Beschichtung von künstlichen Gelenken.
Gemeinsam mit dem Dresdner Forschungsinstitut von Manfred von Ardenne entwickelt der Helbraer neue Verfahren zur Trennung und Bearbeitung von Buntmetallen. Hochtemperaturplasmaphysik ist da gefragt. Die Reihe der Tüfteleien des Physikers, der im Walzwerk Hettstedt als Forschungsingenieur geführt wird, könnte beliebig fortgesetzt werden.
Gerhard Filary, inzwischen auch Familienvater, gehört in der DDR zur Gruppe der technischen Intelligenz, die der Staat - zumindest zeitweise - hegt und pflegt. In den 50er Jahren wird für diesen Personenkreis sogar eine spezielle Altersvorsorge eingeführt - als erstes der später 27 Zusatzversorgungssysteme. Das geschieht vor allem auf Betreiben der mitteldeutschen Chemiker. In den Unternehmen der Region hatte es vor dem Krieg großzügige Pensionsregelungen gegeben. Bei BASF, Hoechst oder Buna Hüls, die im Westen produzieren, bestehen diese weiter. Nicht zuletzt deshalb wandern viele Spezialisten aus dem Osten ab.
1950 erließ DDR-Regierung Verordnung für zusätzliche Altersversorgung
Der Unmut der Dagebliebenen ist groß. Um sie im Land zu halten, müssen sich die Verantwortlichen etwas einfallen lassen. Und so heißt es denn im Beschluss über den Zweijahresplan, der im Sommer 1948 verabschiedet wird: „Trotz der schweren Bedingungen unserer Zeit müssen wir eine bessere Versorgung der Spezialisten, insbesondere ihre Versicherung und Versorgung im Alter, ermöglichen.“ Auf dem III. Parteitag der SED 1950 beauftragt SED-Chef Walter Ulbricht dann die Regierung, entsprechende Regelungen zu erarbeiten. Das geschieht auch - aber nur halbherzig.
Am 17. August 1950 wird die „Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben“ erlassen. Doch die erste Durchführungsbestimmung vom 26. September 1950, die übrigens nie veröffentlicht wird, macht deutlich: Es handelt sich um eine reine Kann-Bestimmung, nach der „Ingenieure, Chemiker und Techniker“ nur dann einbezogen werden, wenn sie „konstruktiv und schöpferisch in einem Produktionsbetrieb verantwortlich tätig sind und hervorragenden Einfluss auf die Herstellungsvorgänge nehmen“.
Das ist selbst der Partei zu wenig. Nach scharfer Kritik muss eine zweite Durchführungsbestimmung erarbeitet werden, die dann die obligatorische Eingliederung der „Ingenieure, Konstrukteure, Architekten und Techniker aller Spezialgebiete“ fordert. Das klappt im wesentlichen dann auch. Berechtigte erhalten eine Versorgungszusage, das heißt, eine Urkunde, die sie in den Kreis derer einschließt, die im Alter neben der gesetzlichen Rente eine sogenannte Intelligenzrente beziehen.
Nach Mauerbau wurden Versorgungszusagen nur noch zögerlich vergeben
Gerhard Filary gehört nicht zu diesem Kreis. Er hat seine Arbeit im Walzwerk am 1. September 1961 aufgenommen. Also wenige Wochen nach dem Mauerbau. Da werden Versorgungszusagen nur noch zögerlich vergeben. Es kann niemand mehr raus aus der DDR. Also muss auch niemand mit besonderen Leistungen gehalten werden. Versorgungszusagen gibt es nun vorrangig für besonders Linientreue. Gerhard Filary gehört offensichtlich nicht dazu. „Ich war nie in der Partei“, sagt er.
Der Diplom-Physiker findet sich damit ab. Doch 1998 kann er hoffen, nachträglich in das Versorgungssystem einbezogen zu werden. Das Bundessozialgericht kommt aufgrund der willkürlichen DDR-Praxis zu folgendem Urteil: Die Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem hängt nicht notwendigerweise davon ab, ob und wann in der DDR eine Versorgungszusage erteilt worden ist. Zugehörigkeit liegt auch vor, wenn eine entgeltliche Beschäftigung ausgeübt worden ist, deretwegen eine zusätzliche Altersversorgung vorgesehen war. Die Rede ist von „fiktiver Einbeziehung“. Gerhard Filary stellt bei der zuständigen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) einen entsprechenden Antrag. Doch wie auch vielen anderen wird ihm nun die erwähnte zweite Durchführungsbestimmung von 1951 zum Verhängnis. Hier würden Physiker wie auch Chemiker nicht mehr explizit als Bezugsberechtigte genannt, heißt es. Die BfA verlangt im Titel den Ingenieur. Gerhard Filary ist aber Diplom-Physiker. Sein Antrag wird abgelehnt. Was er nicht verstehen kann. Er verweist auf die „Systematik der Berufe“ des DDR-Ministeriums für Arbeit vom November 1950. Danach habe ein Diplom-Physiker zur Berufsgruppe der „Ingenieure und Techniker“ gehört.
Hoffen auf die Politik
Dass er dies von seinem Betrieb - heute die Mansfelder Kupfer und Messing GmbH - sogar schriftlich bekommt, interessiert auch das Landessozialgericht, vor dem er gegen die Entscheidung der BfA klagt, nicht. Es bestätigt in seinem Urteil die BfA-Auffassung. Gerhard Filarys Berufung gegen das Urteil wird zurückgewiesen. Wie ihm ergeht es vielen anderen. Die Betroffenen glauben, dass die Gerichte die DDR-Gesetze nicht richtig interpretieren, kritisieren, dass diese eine Sachdiskussion ablehnen.
Gerhard Filary sagt, dass es ihm und anderen Betroffenen nicht um ein paar Euro mehr oder weniger im Geltbeutel geht. „Schmerzhafter als der finanzielle Verlust“, betont er, „ist die Diskriminierung der ostdeutschen Naturwissenschaftler.“ Erst war es die willkürliche Vergabe von Versorgungszusagen in der DDR. Jetzt ist es die bundesdeutschen Justiz, die nicht vermag, dieses Unrecht zu beseitigen. (mz)