Gewalt, Missbrauch, Drogen Gutachter beschreiben die kaputten Leben der Angeklagten aus Thale
„Er richtete sich in Identität als Psycho ein“, sagt die Sachverständige über Andreas E. Oliver K. kam nach Kindergarten in eine Förderschule.

Thale/Magdeburg/MZ - Wie ticken die drei jungen Männer, die im Juli und Oktober des vergangenen Jahres bei zwei Vorfällen in Thale jeweils ein Opfer misshandelt und ausgeraubt haben sollen? Diese Frage stand am Mittwoch beim jüngsten Verhandlungstag im Strafprozess am Landgericht Magdeburg im Mittelpunkt.
Hanna Zajontz, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, hatte sich in den zurückliegenden Monaten mit jedem der Angeklagten zu mehrstündigen Befragungen, der sogenannten Exploration, in den Vollzugseinrichtungen getroffen, in denen sie in Untersuchungshaft sitzen.
Im Ergebnis daraus stellte sie für jeden der jungen Männer im Alter zwischen 26 und 30 Jahren ein detailliertes psychologisches Gutachten vor - und attestierte dabei zwei der drei Angeklagten eine Persönlichkeitsstörung.
Die Beschuldigten Sebastian und Andreas E., legte Zajontz dar, seien als viertes und sechstes von sieben Kindern zunächst auf einem heruntergekommenen Hof im Kreis Mansfeld-Südharz aufgewachsen. Während Andreas E. angab, an diese Zeit kaum Erinnerungen zu haben, sind seinem älteren Bruder Sebastian die Übergriffe der leiblichen Mutter und seines Stiefvaters - Andreas’ Vaters - eigenen Angaben zufolge im Gedächtnis geblieben:
Immer wieder sei es zu Gewalt und sexuellem Missbrauch gekommen, wegen dem sich die Eltern Jahre später vor Gericht verantworten mussten und seitdem langjährige Haftstrafen verbüßen. Die Söhne haben seitdem keinen Kontakt mehr zu ihnen, wie Zajontz schilderte. Andreas E. kam wie sein Bruder Sebastian in eine Pflegefamilie, fiel im Kindergarten jedoch mehrmals mit sexualisiertem Verhalten gegenüber anderen Kindern auf. Zu anderen Gelegenheiten erlebten ihn die Erzieher Zajontz zufolge als „grundlos böse und gefühlskalt“.
Andreas E. kam wie sein Bruder Sebastian in eine Pflegefamilie
Nach einem Zerwürfnis mit den Pflegeeltern kam Andreas E. 2001 ins Kinderheim. Seine Bildungslaufbahn begann er 2003 an der Grundschule, wechselte aber schon 2004 an eine Förderschule. „Er richtete sich in seiner Identität als Psycho ein“, umreißt Hanna Zajontz diese Jahre:
Sein Norm-verletzendes Verhalten mit Lügen und Gewalt gegen Mitschüler habe Andreas E. damals als „cool“ empfunden. Der Proband, merkt sie an, habe diesem Begriff zugestimmt. Nach dem Hauptschulabschluss 2015 nahm Andreas E. eine Wohnung in einem Dorf, zog später nach Thale und dann wieder in ein Dorf um. Nach einer Körperverletzung, Trunkenheitsfahrten, Urkundenfälschung und Diebstahl gelangte er 2017 erstmals in Untersuchungshaft, 2020 wegen Diebstahls ein zweites Mal.
Andreas E. gibt an, seit einiger Zeit regelmäßig Marihuana und Methamphetamin konsumiert zu haben - seit wann genau und wie oft, dazu machte er allerdings bei seinen Verhaftungen und bei der jetzigen Befragung durch Zajontz widersprüchliche Angaben.
Einen Drogenmissbrauch, der voraussetzen würde, dass sich Andreas E. einer Schädigung seiner Gesundheit durch die Drogen bewusst war und dennoch weiter konsumierte, sah die Gutachterin nicht als gegeben an. Einem jüngeren Probanden, merkte sie an, hätte sie unter Umständen eine Störung im Sozialverhalten attestiert - so aber reiche es nicht für die Diagnose Persönlichkeitsstörung.
Sebastian E. kam früh mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berührung
Anders liegen die Fakten bei Sebastian E., der seit dem sechsten Lebensjahr eine Sonderschule besuchte und wenige Jahre später zum ersten Mal mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berührung kam. Aus dem Jahr 2001, berichtete Zajontz, sei eine Schlägerei bekannt; 2002 folgte die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), gegen die Sebastian E. Medikamente verschrieben wurden. Diese, legte die Sachverständige dar, habe der damals Elfjährige aber unter seinen Mitschülern verteilt.
Seine Pflegemutter klagte indes über manipulatives Verhalten. Dass das Verhältnis zur Pflegefamilie schwierig gewesen sei, belege auch der frühe Auszug mit 16 Jahren, fuhr Zajontz fort. Seit dem 20. Lebensjahr ist Sebastian E. mit Straftaten aktenkundig, fuhr mehrmals ohne Führerschein und verbüßte wegen Diebstahls ab 2011 eine erste Freiheitsstrafe in der Jugendanstalt Raßnitz.
Nach Thale kam Sebastian E. eigenen Angaben zufolge durch einen Kumpel, bezog hier eine Wohnung und führte einen „parasitären Lebensstil“ von Sozialleistungen sowie den Einnahmen aus Drogenhandel und dem Handel mit günstigen, nicht amtlich angemeldeten Autos.
Aus der einzigen längeren Beziehung mit einer damals 18-Jährigen aus Slowenien ging ein Sohn hervor, dessen Namen sich Sebastian E. zwar tätowieren lassen habe, den er aber ohne Schuldgefühle nur selten besuche. Seine beiden Mittäter sind nach Angaben von Sebastian E. für ihn nur „flüchtige Kumpels“ - Zajontz bezeichnete den Probanden als „disloyal“. Einen Konsum verzeichnet die Gutachterin für Sebastian E. für die Drogen Marihuana, Speed und Crystal Meth, schließt einen Missbrauch bei ihm aber aus den gleichen Gründen aus.
Auch Oliver K. war verhaltensauffällig, kam früh in die Kinder- und Jugendpsychiatrie
Unterm Strich, erklärte sie, habe man es hier mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung zu tun. Zu demselben Urteil kommt die Sachverständige auch beim dritten Angeklagten Oliver K., der 1991 als erstes Kind einer 18 Jahre alten Mutter in Quedlinburg zur Welt kam und in einem Ort in der Region aufwuchs. Die Mutter trennte sich bald vom leiblichen Vater, der laut Zajontz ein Alkoholproblem hatte - vernachlässigte aber ihren Sohn und die drei weiteren Kinder, die aus der Beziehung mit einem späteren Lebensgefährten folgten.
Er sei, habe Oliver K. ihr gegenüber geschildert, ein „Oma-Kind“, so Zajontz - zur Großmutter hätte er ein viel besseres Verhältnis entwickelt. Im Kindergarten fiel Oliver K. durch aufsässiges Verhalten auf, besuchte anschließend eine Förderschule.
Verhaltensauffälligkeiten, vor allem verbale Aggressivität, führten ihn 2004 erstmals in die Kinder- und Jugendpsychiatrie, die ihm eine unterdurchschnittliche Intelligenz attestierte. Nach der 9. Klasse verließ Oliver K. die Schule, zog im Alter von 17 Jahren in eine Wohngruppe der Evangelischen Stiftung Neinstedt in Calvörde (Börde). Ab 2011 wohnte er bei seiner Großmutter in Thale.
2013 und 2015 wurde Oliver K. nach Zajontz’ Angaben zu Jugendstrafen wegen Drogenbesitzes verurteilt; eine Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren leistete er von 2017 bis Januar 2020 in der Jugendanstalt Raßnitz ab. Drogen, merkte die Fachärztin für Psychiatrie an, habe auch Oliver K. vor den beiden Taten im vergangenen Jahr konsumiert - für einen Missbrauch gebe es aber auch in seinem Fall nicht genügend Anzeichen.