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Cosplay Cosplay: Nach Ladenschluss wird diese 19-Jährige zur Kriegerin

Von Diana Serbe 22.08.2017, 18:23
Cosplayerin Julia Bongort in ihrer Rolle als „Lady Joker"
Cosplayerin Julia Bongort in ihrer Rolle als „Lady Joker" Andreas Stedler

Mit zwei Fingern zieht Julia Bongort einen Streifen aus Blut quer über ihre Lippen. Das sieht etwas eklig aus, die Gesichtsfarbe riecht allerdings ganz lecker: nach Kirsche. Konzentriert stopft Julia auch die letzte rotgefärbte Strähne unter die Perücke. Jetzt leuchten auf ihrem Kopf grüne Locken in der Nachmittagssonne.

Die 19-Jährige zieht noch gestreifte Kniestrümpfe über eine löchrige Strumpfhose. Dazu zerschnittene Shorts. Sorgfältig zupft sie die Lederhandschuhe zurecht. Die Verwandlung von Julia Bongort in den „Lady Joker“ ist abgeschlossen. Beim Kontrollblick in den Spiegel hält sie inne: „Als Kind habe ich Kostümieren gehasst“, sagt die Auszubildende und legt den Puderpinsel zur Seite.

Cosplay - Mehr als die Lust am Kostümieren

Die Einstellung zum Kostümieren hat sich ins Gegenteil verkehrt. Heute ist das Verkleiden für die angehende Einzelhandelskauffrau eine Leidenschaft. In dem 1 500-Einwohner-Städtchen im Vorharz, in dem sie lebt, kennt man sie als aufgewecktes Mädchen. In welche ausgefallenen Rollen sie schlüpft, wissen allerdings nur die wenigsten.

Julia Bongort ist „Cosplayerin“. „Cosplay“ ist eine Wortschöpfung aus den englischen Begriffen „Costume“ und „Play“ - zu Deutsch „Kostümspiel“. Ein Charakter aus einem Film, einer Serie oder einem Computerspiel wird detailgetreu mit Verkleidung, aufwendigen Accessoires und Schminke nachgestellt.

Künstler in der Cosplayszene: So wird aus Julia Bongort Jule Juvenilla

Die Profis lernen sogar die Mimik und Gestik ihres Vorbildes. „Anfangs haben meine Klassenkameraden mich belächelt, weil Cosplay in unserer Region noch nicht so bekannt ist“, sagt Julia Bongort. Doch unter dem Künstlernamen „Jule Juvenillia“ hat sich die Auszubildende in der Cosplay-Szene mit einem Dutzend Rollen eine gewisse Prominenz erarbeitet.

Ihr Umgang mit der Bekanntheit ist allerdings zwiespältig. Auf der einen Seite Fotoshootings und Wettbewerbe. Oft wird sie auf Messen wiedererkannt. Fotografen sprechen sie an und möchten ein Bild von ihr. Das veröffentlicht die junge Frau dann in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram.

Dort würdigt selbst ihre Chefin das Hobby der 19-Jährigen mit zahlreichen „Likes“. Auf der anderen Seite möchte sie aber weder ihren genauen Wohnort noch zu viele private Details preisgeben. Cosplay habe nichts mit ihr als Privatperson zu tun.

Hass-Kommentare gegen Cossplayerin - So geht Julia Bongort mit ihnen um

Das ist einer der Gründe, warum sie die Hass-Kommentare, mit denen sie im Internet zu kämpfen hat, nüchtern benennen kann: „Du bist zu hässlich, du bist zu fett, deine Bilder sind nicht gut.“

Die 19-Jährige sagt ruhig: „Das kommt automatisch, wenn man sich in der Öffentlichkeit präsentiert.“ Die Reaktionen in ihrem Umfeld reichen derweil von Desinteresse über Vergleiche mit Karneval bis hin zu begeisterten Anhängern. In der Familie gibt es nicht nur Verständnis, ihre Mutter Uta sagt aber: „Solange sie ihre Ausbildung nicht vernachlässigt, habe ich nichts dagegen.“

Für ihre Leidenschaft opfert die junge Frau viel Zeit. Während ihre Freunde klettern, lesen oder Sport treiben, schlägt sich die 19-Jährige manchmal ganze Nächte um die Ohren, wenn sie an ihren Kostümen arbeitet.

„Chaotisch“ gehe es in ihrem Zimmer im elterlichen Heim zu. Nähmaschine, Heißluftföhn, Elektrowerkzeug. Geräte, mit denen Rüstungen und Waffen in Detailarbeit hergestellt werden. Das sei für sie neben dem Posieren in der Öffentlichkeit jedoch der Kern des Ganzen: Stolz etwas Eigenes vor einem Publikum zu präsentieren.

Teurer Spaß: So viel kostet Cosplay

Zwischen 50 und 700 Euro gibt die Auszubildende für ihre Kostüme aus. Das Hobby ist dabei fast ein Familienprojekt: Mutter Uta näht, Vater Karsten gibt Handwerker-Tipps und stellt die Maschinen zur Verfügung. Die Eltern begleiten ihre erwachsene Tochter auch zu Conventions, wie die Zusammenkünfte von Gleichgesinnten in ganz Deutschland genannt werden.

Julia Bongort interessiert sich beim Cosplay vor allem für die Hintergrundgeschichte der Figuren. Woher kommt der Charakter? Wie ist er zu dem geworden, was er jetzt ist?

Der „Joker“, in den sie sich gerade verwandelt hat, ist als Gegenspieler von Comic-Superheld „Batman“ zur Kultfigur geworden. „Der Joker bedeutet für mich Rebellion, Anarchie und Aufstand gegen das System“, sagt Julia Bongort. Am Cosplay gefalle ihr, dass man den Charakter sehen kann, wie man möchte. Deshalb erschaffe sie häufig ihre ganz eigenen Versionen der entsprechenden Figuren.

Gender bend - Frauen spielen Männerrollen

Ihr „Lady Joker“ sei eine Mischung aus der Verkörperung von Heath Ledgers Version im Film „The Dark Knight“ und Jared Letos Figur in „Suicide Squad“. „Nur in der weiblichen Punk-Version, zu der eigentlich auch noch Tattoos auf den Armen gehören“, erzählt sie. „Gender bend“ nennt sich diese Variation im Cosplay: Frauen spielen Männerrollen und umgekehrt. „Ganz oft sieht man Parallelen zwischen den fiktiven Welten und unseren“, sagt die Cosplayerin begeistert.

Genau wie die Darsteller in den Spielen habe auch sie verschiedene Phasen in der Vergangenheit durchlebt: „In meiner Kindheit habe ich es geliebt, auf der Bühne zu stehen. Beim Singen, beim Tanzen, beim Schauspielen“, sagt sie. In der Pubertät habe sie sich zurückgezogen. Dann begann die „Jungs-Phase“, wie sie sie nennt. Sie wollte gerne ein Junge sein, trug Tarnklamotten. Erst durch Cosplay und den Zuspruch, den sie aufgrund ihrer auffälligen Kostüme bekam, habe sie wieder zu ihrem alten Selbstbewusstsein zurückgefunden.

Trend aus Japan: Darum ist Cosplay so beliebt

Der aus Japan stammende Verkleidungstrend ist keine Neuheit. Bereits in den 90er Jahren tauchte er erstmalig in Europa auf, erklärt Japanologie-Experte Martin Roth von der Universität Leipzig. Für den Antrieb, beim Cosplay mitzumachen, gebe es verschiedene Gründe.

„Dazu gehören Performance, Fansein, die Gemeinschaft mit anderen und die Selbstdarstellung.“ Und die Resonanz ist groß. In den vergangenen Jahren hat sich in Deutschland eine ganze Cosplay-Szene entwickelt, selbst Messeveranstalter stellen sich darauf ein.

Auch die Leipziger Buchmesse ist aufgrund des breiten Angebots an Comics, zu denen auch die japanische „Manga“-Variante zählt, beliebter Anlaufpunkt für Cosplayer geworden. Tausende Verkleidungsfans stürzen sich im Frühjahr auf die neueste Literatur, nehmen an Wettbewerben um das schönste Kostüm teil oder genießen einfach die Aufmerksamkeit der Fotografen und Messebesucher.

Cosplayer auf der Leipziger Buchmesse: Dieser Trend bringt Probleme mit sich

Doch der Ansturm findet ein geteiltes Echo. Während einige Besucher die farbenfrohen Darsteller bestaunen, fühlen sich andere wiederum durch den Andrang beim Messebesuch gestört. „Cosplayer werden von manchen Beteiligten und Veranstaltern sehr begrüßt, von anderer Seite aber abgelehnt“, sagt Martin Roth. „Das sorgt für Spannungen zwischen der über viele Jahre gewachsenen Buchkultur und einer neuen, für Außenstehende schwer zugänglichen Populärkultur um Manga und Anime.“

Seit 2014 gibt es für die Verkleidungs-Fans eine eigene Messehalle während der vier Veranstaltungstage in Leipzig. Und die Besucherzahlen dieser „Manga-Comic-Con“ wachsen trotz vereinzelter Diskussionen stetig: Kamen 2014 erst 31 000 Besucher, waren es 2016 mit 96.000 bereits mehr als drei Mal so viele, berichtet eine Sprecherin der Leipziger Messe.

Waffen-Check für Cosplayer: Nicht alles ist erlaubt

Der neue Trend bringt allerdings auch bisher unbekannte Probleme mit sich. Aufgrund der Vielzahl der Waffen, die zu den Kostümen gehören, wurden die Einlassbedingungen für Cosplayer verschärft. Bereits im Vorfeld findet ein „Waffen-Check“ statt. Verboten sind in Leipzig neben Imitaten von Revolver bis Schwert auch Zombie-Kostüme und Verkleidungen mit mehr als zwei Metern Durchmesser.

Ihren nächsten Auftritt hat die 19-Jährige auf der momentan stattfindenden „Gamescom“ in Köln, der weltweit größten Spielemesse. Als Kostüm wird sie ihren Schamanen im Wolfspelz im Gepäck haben. Ihr zugehöriger Gehstock aus massivem Holz muss draußen bleiben. Dennoch wird die Kölner Messe für sie ein ganz besonderes Erlebnis werden: Erstmalig darf sie dort am Kostümwettbewerb teilnehmen. (mz)