Beruflicher Abschied mit Beigeschmack Beruflicher Abschied mit Beigeschmack: "Augen haben doch etwas Ästhetisches"

Neinstedt - In der Silvesterwoche absolvierte sie ihren letzten Bereitschaftsdienst, unterdessen gab sie ihre Zulassung zurück und ist eigentlich nur noch Privatperson. Augenärztin Dr. Irene Knust will wieder mehr Zeit finden für die Familie, die Enkel, für gesellschaftliches Engagement, Kultur, Wandern und alle die Dinge, die sie zuhause „für später mal“ nach langem Praxisalltag und ihren Diensten zur Seite geschoben hat.
Dass sie im 66. Lebensjahr steht, so wirkt sie nicht. „Irgendwann muss ein Schlussstrich gezogen werden. Ob ich nun dieses, nächstes oder übernächstes Jahr keinen Praxisnachfolger finde.“ Ihre Worte klingen bitter. „Es schmerzt, wenn man sein Lebenswerk nicht in jüngere Hände legen kann“, umreißt sie die Aussichtslosigkeit, die sie Jahr um Jahr gespürt hat.
„Diabetes, Bluthochdruck, Schilddrüsen- und Nervenerkrankungen, all das lese ich aus den Augen“
Dabei erinnert sie sich an eine gute Zeit. Sie hat ihre Arbeit gern gemacht. „Ich habe meine Wahl nie bereut. Augenheilkunde, das ist doch eigentlich eine tolle Fachrichtung. Augen haben doch etwas Ästhetisches.“ Noch dazu weiß die Medizinerin, wie eng ihr Fach mit anderen Disziplinen verzahnt ist. „Diabetes, Bluthochdruck, Schilddrüsen- und Nervenerkrankungen, all das lese ich aus den Augen.“
Oft sei der letzte Patient erst nach 20 Uhr aus der Praxis gegangen. Zwölf Stunden Arbeit am Tag, meist nur einen richtigen Urlaub im Jahr, da blieb nach Sprechstunde und Diensten nicht viel Zeit für ein Hobby. Manchmal fragt sie sich heute, wie sie Beruf, Doppelmedizinerhaushalt, einen Sohn und zwei Töchter gemanagt habe.
Irene Knust hat in ihrer Praxis über viele Jahre wunderbar mit ihrer Kollegin Sieglind Brand zusammengearbeitet. Die angestellte Augenärztin wird nun wohl allein bis zu ihrem eigenen Ruhestand im Neinstedter Ärztehaus Patienten betreuen.
Patienten mit Tränen in Augen
„Rundherum beenden Kollegen ihr Berufsleben, und es fehlt an Nachwuchs gerade in unserem Fachgebiet. Bis in die Unikliniken habe ich nach jemandem gesucht, der meine Praxis übernimmt. Oft ist das eine Katastrophe für die Patienten. Manche habe ich 30 Jahre betreut, die sprachen mit mir über ihr Leben und hatten jetzt Tränen in den Augen, weil sie nicht wissen, wie es mit ihrer Behandlung weitergehen wird. Was mich so wütend macht: Das alles interessiert niemanden in der großen Politik. Da mischt sich Wut, Verzweiflung und Trauer, wenn ich auf rund 40 Jahre Mediziner-Sein zurückblicke.“
Ehemann hat Nachfolgerin gefunden
Die freundliche Ärztin, die durchs Praxisfenster viel zu selten den Anblick der Neinstedter Lindenhofskirche genießen konnte, wirkt fast etwas neidisch, wenn sie erzählt, dass ihr Mann, 73, Internist und Hausarzt vom alten Schlage, für seine Hälfte der gemeinsamen Praxis eine Nachfolgerin gefunden hat. Die pensionierte Augenärztin lächelt in Richtung Nachbarsprechzimmer. „Unsere jüngste Tochter Elisabeth übernimmt die Hausarztpraxis, in der sie sich bereits bestens auskennt.“ So wird Dr. Elisabeth Knust nun die vierte Medizinergeneration der Familie, die in Neinstedt praktiziert.
„Das ist ein dickes Kapitel Lebens-, Medizin- und Zeitgeschichte“
Dr. Sell kam nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Osten nach Neinstedt, dann der Vater ihres Mannes nach dem Zweiten Weltkrieg, dann ihre Generation und nun ihre Tochter. „Das ist ein dickes Kapitel Lebens-, Medizin- und Zeitgeschichte“, findet Irene Knust.
„Schon immer sind wir den Neinstedter Anstalten, der heutigen Evangelischen Stiftung, eng verbunden gewesen. Das gehört über die Jahre einfach dazu. Mein Mann betreut dort seine Patienten. Ich hatte viele Behinderte in der Versorgung. Dafür braucht man einfach ein Händchen. Das ist durchaus auch eine schöne Sache, da spüre ich viel Dankbarkeit.“ In der Stiftung und bei den Einwohnern sieht man, sie sind ziemlich glücklich mit den Knusts. Nicht nur, weil der engagierte Hausarzt seit vielen Jahren als Ortsbürgermeister die kommunalen Geschicke erfolgreich mitlenkt.
Das Jahr 2020 war für den Internisten und die Augenärztin mit vielen Jubiläen verbunden. „Alles, was wir geplant hatten, fiel dem Coronavirus zum Opfer“, sagt Irene Knust. „Vor 100 Jahren gründete der Großvater hier seine Hausarztpraxis, seit 30 Jahren arbeiten mein Mann und ich hier in unserer Praxis, und 1995, vor 25 Jahren, sind wir ins neue Ärztehaus in der Lindenstraße umgezogen.“
„Fast berufliche Zwangsehe“
Sie erinnert sich an ihren eigenen Weg. Bis 1980 Studium und danach Facharzt-Weiterbildung an der Universitätsklinik Magdeburg, dann der Wechsel ans Klinikum in Quedlinburg. Die gesellschaftlich spannenden Jahre 1989/1990 erlebte die Medizinerin in der Ambulanz der Poliklinik Ballenstedt.
„Aber mit der Wende änderte sich auch im Gesundheitswesen alles grundlegend. Zwei Ärzte mit drei Kindern, wie wir beide unseren Blitzstart hier hinlegten, das war oft mehr als haarig.“
An Räumen für eine Niederlassung mangelte es damals. Das Großvater-Haus aus dem Jahr 1927 bot keine Praxisräume nach dem West-Standard. „Es glich fast einer beruflichen Zwangsehe, eine Augenärztin und ein Internist, die sich im Schichtdienst dort ein Sprechzimmer teilten“, schaut die Mittsechzigerin zurück.
Die Töchter sind Ärztinnen und der Sohn Informatiker
Als 1995 der Umzug ins Ärztehaus am Lindenhof anstand, befand das Paar, dass man es bei der bestens gewählten Kombination belassen sollte. „Das hatte nicht nur medizinisch Vorteile, wenn ich mal Patienten in die andere Praxishälfte rüberschicken konnte, sondern auch bei Personal und Management.“ Sie fügt an: „Und datentechnisch waren wir beide bislang bestens betreut. Denn wir haben nicht nur zwei Töchter, die Ärztinnen sind, sondern auch einen Sohn, der sich als Informatiker mit der Technik bestens auskennt.“
Den Eindruck, dass sie jetzt Langeweile hat, lässt Irene Knust gar nicht entstehen. „Es ist zu viel zu kurz gekommen. Wann soll ich das nachholen, wenn nicht jetzt.“
Sie denkt da weder an Weltreisen noch an Golf, sondern eher an Engagement im Umweltschutz, Blühwiesen daheim und Wanderungen in der Region mit ihrem Mann, der schließlich nicht nur Hausarzt, sondern seit der Abiturzeit auch Waldkenner ist. Oder sie ist gefragt, wenn Tochter Elisabeth nach der Geburt ihres zweiten Kindes wieder engagiert in ihrer Hausarztpraxis Patienten betreut. Wie das in der Familie Knust halt Tradition ist. (mz)