Flüchtlinge in Anhalt-Bitterfeld Flüchtlinge in Anhalt-Bitterfeld: Ein Jahr danach: "Es lief teilweise grenzwertig"

Bitterfeld - Die Flüchtlingskrise hat den Landkreis Anhalt-Bitterfeld ab dem Herbst 2015 vor große Herausforderungen gestellt. Was hat sich seitdem verändert? Wie fällt ein Jahr später der Rückblick aus? MZ-Redakteur Stefan Schröter hat dazu mit Landrat Uwe Schulze (CDU) und mit Diane Gardyan, der Leiterin des noch recht neuen Amtes für Ausländerangelegenheiten, gesprochen – über gelöste und ungelöste Probleme.
Vor einem Jahr stiegen die Zuwanderungszahlen stark an. Wie groß war die Herausforderung für den Landkreis?
Uwe Schulze: Es kam wirklich eine kleine Flutwelle über uns. Wir hätten mehr Zeit für eine vernünftige Vorbereitung gebraucht. Im August 2015 hatten wir dann einen Punkt erreicht, an dem die uns zur Verfügung stehenden Wohnungen nicht mehr ausreichten und wir deshalb neue Asylunterkünfte suchen mussten. Und überall dort, wo Fahrzeuge der Landkreisverwaltung dann von Anwohnern gesichtet wurden, kamen sofort wilde Spekulationen auf.
Wie sehr kam der Landkreis bei der Bewältigung der Flüchtlingsverteilung an seine Grenzen?
Schulze: Die Zuweisungszahlen stiegen in Anhalt-Bitterfeld zeitweise in Hunderterschritten. Im November 2015 waren es knapp 500, für Dezember wurden 600 angekündigt. Wenn die Anzahl der Zuweisungen sich in dieser Höhe verstetigt hätten, dann wären wir sicher an Grenzen gestoßen und ein totaler Kollaps hätte gedroht.
Diane Gardyan: Es lief teilweise schon grenzwertig. Wir haben erst kurz vorher Nachricht erhalten, wann und wie viele Menschen zu uns kommen. Und ein bis zwei Tage später standen die Busse mit den hilfesuchenden Menschen schon vor unserer Tür. Oftmals auch in den Abendstunden. Und uns wurde dann sogar vorgeworfen, dass wir Nacht-und-Nebelaktionen mit den Flüchtlingen durchführen.
Das BIG-Hotel war in diesen Zeiten als mögliche Asylunterkunft ein Dauerbrenner. Und es wurden weitere Unterkünfte vorbereitet
Schulze: Die Suche nach weiteren Gemeinschaftsunterkünften war absolut notwendig. Schließlich können wir die Hilfesuchenden ja nicht auf der Straße stehen lassen. Wenn pro Monat mit 500 Zuweisungen zu rechnen ist, dann wäre zum Beispiel das BIG-Hotel innerhalb eines Monats voll.
Die Unterbringung in Zelten, Turnhallen oder Baumärkten wollten wir auf jeden Fall vermeiden. Deshalb mussten wir zwei zusätzliche Gemeinschaftsunterkünfte, territorial verteilt, ausschreiben. So kam es zu den Vergaben nach Köthen und Roitzsch und der Errichtung der Köthener Notunterkunft.
Was würden Sie heute anders machen?
Schulze: Eigentlich nicht viel. Das, was wir unternahmen, war zur Aufgabenerfüllung zwingend notwendig.
Wie sehr hat die Flüchtlingskrise Ihre Einstellung zu den Flüchtlingen verändert, Herr Schulze?
Schulze: Es hat mich nicht verändert, sondern bestärkt. Ich habe immer offen meine Meinung dazu gesagt. Es ist ganz selbstverständlich für mich, dass Hilfe- und Schutzbedürftige bei uns diesen Schutz und diese Hilfe auch erhalten und das in einem menschenwürdigen Umfeld. Aber diejenigen, die keinen Schutz benötigen, müssen unser Land auch wieder verlassen.
Ich bin aber auch der Meinung, dass die Bundesregierung die Flüchtlingssituation besser regeln hätte müssen. Zum Beispiel mit der Vorgabe, dass Deutschland eine Million Flüchtlinge in zehn Jahren aufnehmen kann, aber nicht binnen eines Jahres. Wie soll eine vernünftige Integration da funktionieren? Angela Merkel hat sich da schlicht und einfach vergaloppiert.
Was hat die Behörde getan, um die hohe Zuwanderung zu bewältigen?
Gardyan: In der Verwaltung haben wir alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die hauptsächlich mit der Flüchtlingsproblematik zu tun haben, im neu gegründeten Amt für Ausländerangelegenheiten konzentriert. Des Weiteren mussten wir viele neue Stellen schaffen und besetzen, zum Beispiel für die Suche nach Wohnungen, deren Anmietung, Ausstattung und Verwaltung. Insgesamt sind in dem neuen Amt jetzt 44 Mitarbeiter in drei Sachgebieten beschäftigt. 2014 kümmerten sich nur etwa 20 Leute um diese Angelegenheiten.
Schulze: Vor der Flüchtlingswelle waren wir zu einem strikten Sparkurs angehalten. So war zum Beispiel die Schaffung von neuen Stellen nur in Ausnahmen möglich. Und plötzlich spielte Geld kaum noch eine Rolle. Das war für uns alle nur schwer zu verstehen.
Wie die Situation aktuell im Landkreis Anhalt-Bitterfeld aussieht.
Die Flüchtlingszahlen sind in den vergangenen Monaten spürbar zurückgegangen. Wie sieht die Situation heute im Landkreis aus?
Gardyan: Die Lage ist heute entspannter. Die Notunterkunft in Köthen ist aufgelöst. Die geplante Gemeinschaftsunterkunft in Roitzsch wird nicht mehr benötigt. Zurzeit leben bei uns nur noch vier Asylsuchende, die noch keinen Asylantrag in der zentralen Aufnahmestelle in Halberstadt gestellt haben. Auch das war einmal ganz anders. Zudem gibt es viele Deutschkurse. Integrationslotsen und Migrationskoordinatoren und viele Ehrenamtliche kümmern sich vor allem um die Integration.
Schulze: Trotzdem ist die Situation insgesamt noch immer problematisch. Die Frage ist: Wie funktioniert die Integration? Viele Menschen fürchten, dass auch schwarze Schafe unter den Flüchtlingen sind, was man ja auch nicht ausschließen kann. Eine wahre Integration kann nur gelingen, wenn neben der Integrationsbereitschaft der Bevölkerung auch der Integrationswille und der Wille zur Arbeit bei den Migranten vorhanden sind.
Die Flüchtlingsunterkünfte in Marke und Friedersdorf stehen jetzt vor der Schließung. Aber in Köthen ist eine neue Unterkunft geplant. Warum wird sie gebraucht, wenn genügend Wohnungen angemietet wurden?
Schulze: Es gibt auch Menschen, die in einer Gemeinschaftsunterkunft besser aufgehoben sind. Unser Ziel ist es, künftig die meisten der neu hier ankommenden Asylsuchenden in Köthen auf das Leben in Wohnungen und das Leben allgemein hier in Deutschland vorzubereiten. Dann kann auch Integration besser gelingen. Bei der Verteilung in Wohnungen werden wir auch in Zukunft auf eine möglichst gleichmäßige Unterbringung in Städten und Gemeinden achten. (mz)