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Schrifsteller Christoph Hein in Halle Was wichtig ist

Heimspiel für Christoph Hein: Vor mehr als 300 Menschen redet der Bestsellerautor im Steintor-Varieté in Halle über sein Leben und Schreiben.

Von Christian Eger 13.06.2024, 17:04
Schriftsteller Christoph Hein in Halle: „Ich schreibe an 360 Tagen im Jahr“
Schriftsteller Christoph Hein in Halle: „Ich schreibe an 360 Tagen im Jahr“ (Foto: Steffen Schellhorn)

Halle/MZ. - Um den Schriftsteller Christoph Hein muss man sich keine Sorgen machen. „Wenn der Herrgott es gut meint mit mir, kann ich noch 50 Jahre weiterschreiben“, sagte der 80-Jährige am Dienstagabend auf der Bühne des bis in den ersten Rang mit mehr als 300 Menschen gefüllten Steintor-Varietés in Halle. Noch 50 Jahre? Humor hat der Bestsellerautor auch. Zwar wird Hein immer als „Chronist“ geführt, er selbst aber will sich anders verstanden wissen. „Ich bin kein Chronist“, sagt Hein. „Ich bin ein Humorist. Das hat die Presse nur noch nicht richtig mitbekommen.“

Hein in Halle: Das Publikum strömt. Erwartungsvoll, hellwach. Das ist der Mann auf der Bühne auch. Weißer Anzug, weißes Hemd, weißes volles, im Scheitel fast zu langes Haar, so tritt der Autor unter starkem Applaus vor sein Publikum. Kein alter weißer, sondern ein weißer weiser Mann. Heins immer wieder in die Stirn fallende Frisur hat etwas Helge-Schneider-mäßiges, so jugendlich wirkt der Alte, der zwar einen hölzernen Stock zum Stehen und Gehen nutzt, im Sitzen aber so geistig beweglich ist wie stets zuvor.

800-Seiten-Roman im Frühjahr 2025

Wenn an diesem Abend etwas zu begreifen ist, dann ist es die eiserne Disziplin, mit der Hein sein Handwerk betreibt. Täglich von sieben bis 15 Uhr sitze er am Schreibtisch, sagt der Erzähler, Dramatiker und Essayist. Dabei schreibe er nicht jeden Tag, sondern nur 360 Tage im Jahr. Wenngleich mit Einschränkungen. Im Urlaub schreibe er nur bis zwölf Uhr, dann treibe er den „Unsinn“, den man im Urlaub eben treibt.

Oder die kleine Entspannung. Dann sitzt der Schriftsteller, der seit Jahren seinen Hauptwohnsitz in Havelberg, also in Sachsen-Anhalt, hat, auf der Terrasse bei einem Glas Weißwein. Mitten im Naturschutzgebiet, rundum „nur Berge und Kühe“. Das einzige, was störe, seien die Vögel, sagt er. Dann rufe er: „Ruhe, hier wird gearbeitet!“ Nicht am nächsten, sondern immer schon am übernächsten Buch. Für das Frühjahr verspricht Hein einen 800-Seiten-Roman.

Anderthalb Stunden beantwortet der repräsentative Autor der ostdeutschen Nachkriegs-Erfahrung die Fragen von Paul Werner Wagner, Gastgeber des von der Friedrich Ebert Stiftung veranstalteten Forums Kultur, präsentiert unter dem Motto „Kritischer Chronist der deutsch-deutschen Verhältnisse“. Hätte es hier Humorist heißen sollen? Geboten wird ein eher zähes Abfragen biografisch-literarischer Stationen, was den Abend für Hein-Leser mühsam macht, denn Heins Weg und Werk kennen sie ja schon. Aber wie blickt Hein auf die aktuelle Lage? Darüber kein einziges Wort. Wie ein weißer Elefant steht die Gegenwart im Raum. Nicht auf Bitten des Gastes, wie der Moderator später der MZ sagt. Er habe gemeint, dass das doch alles sichtbar werde.

Sachsen-Anhalt? „Land der Unausgeschlafenen“

Tatsächlich sichtbar wird ein Autor, der mit einer an der Geschichte und Literatur geschulten Lakonie auf die Welt schaut. Ihn überrasche wenig, sagt Hein. Die Verachtung von Flüchtlingen habe er erlebt, als er – das dritte von sechs Pfarrers-Kindern – von Schlesien nach Bad Düben geflohen war. Die West-Ignoranz gegenüber dem Osten habe er, dem in der DDR das Abitur verwehrt wurde, an einem Westberliner Gymnasium erfahren. Insofern waren jene Erfahrungen, die „der Rest der Bevölkerung“ nach 1990 machte, für ihn keine Überraschung: „Ich war trainiert“, sagt Hein.

Station für Station, nahezu Buch für Buch, zieht der Moderator den Abend voran. Heins Flucht aus Schlesien, Jugend in Bad Düben, Schule in Westberlin, die Theaterjahre im Osten, die Erfolge der Bücher wie „Der fremde Freund“, „Horns Ende“, auch Heins vom Berliner (West-)Senat geschredderte Kandidatur 2004 als Intendant des Deutschen Theaters, aber das alles hatte Hein längst veröffentlicht. Bälle, die der Moderator aufs Feld legt, spielt er nicht weiter. Hein in Sachsen-Anhalt? Wie konnte das passieren? Bedeutet das etwas? Wagner zitiert den Slogan vom Land der Frühaufsteher. Hein reagiert, dass er lieber vom Land der Unausgeschlafenen rede. Applaus. Aber: unausgeschlafen wovon?

Kein Fernsehen, nur Rundfunk

Weniger der Zeitkritiker als der Mitmensch Hein ist somit das Ereignis dieses Abends. Der Mann, der nach dem Tod seiner ersten Frau, der Dokumentarfilm-Regisseurin Christiane Hein, über ein Dreivierteljahr keine einzige Zeile schrieb, nur Musik hörte. Erlöst habe ihn eine Anfrage aus dem Kinder- und Jugendbuchverlag Beltz & Gelberg, woraufhin der Roman „Mama ist gegangen“ entstand. Der Mann, der seit vielen Jahren keinen Fernseher mehr nutzt. Nachrichten höre er im Rundfunk, sagt Hein, weil sie dort nicht nach einem Bildwert, sondern nach ihrer Wichtigkeit sortiert würden.

Was wichtig ist, darauf kommt er am Ende zu sprechen. Hein liest zwei Texte aus seinem Kinderbuch „Alles, was du brauchst. Die 20 wichtigsten Dinge im Leben“. Die Passagen zum „Freund“ trägt er vor und zur „Mama“. Auch wenn das lesende Kind eines Tages alt sei, liest er, bliebe diesem die Mutter der wichtigste Mensch im Leben. Wenn nicht alles täuscht, hat Christoph Hein beim Vorlesen sehr mit eigenen Gefühlen zu ringen. Dann steht er auf, greift sich ans Herz, verneigt sich und verlässt, auf seinen Gehstock gestützt, unter Standing Ovations aufrecht und schnell die hallesche Bühne.