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Forscherin belegt: Es gab zwei bis heute unbekannte letzte Tagebücher von Brigitte Reimann Verschollen

Die Forscherin Kristina Stella belegt, dass Brigitte Reimann auch kurz vor ihrem Tod Tagebücher verfasst hat. Mit Hilfe der Stasi sind die verschwunden.

Von Christian Eger 06.07.2023, 13:56
Schriftstellerin Brigitte Reimann im Jahr 1962. Teile ihres „Franziska Linkerhand“-Romans galten ihrem Lektor als „offener Angriff auf unseren Staat“.
Schriftstellerin Brigitte Reimann im Jahr 1962. Teile ihres „Franziska Linkerhand“-Romans galten ihrem Lektor als „offener Angriff auf unseren Staat“. (Foto: DPA)

HALLE/MZ - Nicht die erfolgreichen Erzählungen, nicht die verschiedenen Fassungen des „Franziska Linkerhand“-Romans, sondern die posthum veröffentlichten Tagebücher sind die eigentliche literarische Sensation, die Brigitte Reimann hinterlassen hat. Eine Frau, die immer geschrieben hat.

Von ihrem zwölften Lebensjahr an führte die 1933 in Burg bei Magdeburg geborene und 1973 im Alter von 39 Jahren in Berlin gestorbene Schriftstellerin ein persönliches Journal. Vital, zupackend, sehr reflektiert. Schonungslos gegenüber sich selbst, rücksichtslos gegenüber den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen, zu denen sie sich von Mitte der 1960er Jahre an immer stärker in Distanz befand.

Als 1997 im Berliner Aufbau Verlag eine umfangreiche Auswahl ihrer Tagebücher erschien, staunte das literarische Deutschland – und zwar in Ost und West. „Ich bedaure nichts“ war diese erste Lieferung überschrieben, die die Jahre von 1955 bis 1963 erfasste; die frühen Tagebücher hatte Brigitte Reimann 1959 selbst vernichtet. 1998 folgte die Tagebuchauswahl „Alles schmeckt nach Abschied“ für die Jahre von 1964 bis 1970. Jene Zeit, in der die Autorin, die am 21. Juli 90 Jahre alt geworden wäre, in Hoyerswerda (bis 1968) und Neubrandenburg lebte.

Bloß nicht nach Westen

Marcel Reich-Ranicki war ganz aus dem Häuschen, als er das Journal im „Literarischen Quartett“ lobte. Diese Aufzeichnungen seien ein eigenständiger Roman, urteilte der Kritiker völlig zu Recht – und das vielleicht wichtigste Stück DDR-Literatur überhaupt. In der Tat: Nirgendwo sonst waren so genaue persönliche und ungeschützte politische Auskünfte zu finden, die auf alles Poetisieren und Selbstbeweihräuchern verzichteten.

Zurückgegriffen wurde für die Aufbau-Ausgaben auf die heute im Brigitte-Reimann-Archiv im Literaturhaus Neubrandenburg aufbewahrten Originaltagebücher. Deren Überlieferung endet mit dem 14. Dezember 1970. „Weitere Tagebücher befinden sich nicht im Nachlaß“, ist in der Aufbau-Ausgabe von 1997 zu lesen.

Aber heißt das, dass es weitere Tagebücher überhaupt nicht gegeben hat? Dass die 1968 an Krebs erkrankte Autorin nach 1970 bis zu ihrem Tod kein privates Journal mehr geführt hätte? Diese Meinung ist zu hören. Ein Irrtum, stellt jetzt die Reimann-Forscherin Kristina Stella klar, die 2022 den ersten Reimann-Roman „Die Denunziantin“ veröffentlicht hatte. In akribischer Recherche gelang es der 1963 in Dresden geborenen und bei Frankfurt am Main lebenden Bibliothekarin nachzuweisen, dass die ab 1972 aktiv von fünf Stasi-Spitzeln – darunter vier Kollegen – beobachtete Autorin nicht nur auch zuletzt Tagebücher   geführt hat, sondern dass deren öffentlich werden von Seiten des Staates unbedingt verhindert werden sollte.

Unter dem Titel „Geheimnisse. Die unvollständigen Tagebücher der Brigitte Reimann“ verfasste Kristina Stella jetzt einen Forschungsbericht, den sie der MZ mitteilte. Demnach beobachtete die Stasi die todkranke Autorin, deren 13. Kapitel für den „Linkerhand“-Roman dem Verlag Neues Leben laut Stasi-Notiz als „ein offener Angriff auf unseren Staat“ galt, um einen Abgang ihres Nachlasses in den Westen zu verhindern. Dort lebt ihr Bruder Ludwig in Hamburg. Kristina Stellas Recherche, die überraschend auch Tagebuchblätter von 1947 zu Tage brachte, offenbart einen Krimi, der sich zuletzt um die Autorin ereignete, die dem Staat immer stärker als unberechenbar erschien.

„Ich habe wenig Lust mich weiter mit ihr zu beschäftigen“, teilte 1972 der „Linkerhand“-Gutachter als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi mit. „Sie ist eine Nervensäge für mich.“ Über das brisante 13. Kapitel des Romans, der zuerst 1974 „unvollendet“ erschien, ist zu lesen: „Sie hat in diesem Teil einen Fall aus Leipzig verschlüsselt wiedergegeben, wo der Schriftsteller Loest eingesperrt wurde, weil er eine Listensammlung für die Frau eines Konterrevolutionärs veranstaltet hat. So etwas macht ihr Held jetzt auch. Er unterstützt die Frau eines Republikflüchtigen und wird dafür 4 Jahre ins Zuchthaus gesteckt.“

Beweis im Stasi-Archiv

Den Beweis, dass Brigitte Reimann auch nach 1970 Tagebücher führte, fand Kristina Stella im Stasi-Unterlagen-Archiv Neubrandenburg. Ein Stasi-Protokoll vom 6. März 1973, wenige Wochen nach dem Tod der Autorin notiert, enthält den Hinweis, dass der letzte, 1971 geheiratete Mann der Reimann von der Lektüre der späten Journale bestürzt gewesen sein soll. „Sie seien entsetzlich“, wird er von der Stasi zitiert. „B.R. habe genau registriert, was sie gemacht hat. So hätte er u.a. auch gelesen, dass sie ihn bereits 4 Wochen nach der Heirat betrogen hat. Den Namen nannte er nicht“.

Wenige Tage darauf findet sich die Notiz, dass der Geheimdienst und der Verlag dem Ehemann „die Tagebücher abgekauft“ hätten für eine Summe, die „vier, wenn nicht fünfstellig gewesen sei“. Die Stasi notiert: „Zwei Tagebücher, die aus seiner Zeit hat er nicht zur weiteren Verwendung frei gegeben, weil er in diesen Tagebuchaufzeichnungen bloßgestellt wird“.

Diese zwei Tagebücher sind bis heute verschollen. „Doch es kann niemand mehr behaupten“, schreibt Kristina Stella, „es habe sie nicht gegeben.“

Für die Reimann-Forschung ist das eine klare Ansage. Ob diese zwei Tagebücher irgendwo überliefert sind, ist offen. Fest steht: Bis diese Frage nicht geklärt ist, bleibt manches im Dunkel. Bis auf weiteres gilt: Der Lebensroman der Brigitte Reimann ist noch nicht ausgelesen.