Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen Mit allen Sinnen
Neue Methoden des Lernens: Die Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen in Halle widmet sich der „Entdeckung der Anschaulichkeit“ im Schulwesen um 1700.
Halle/MZ. - Begreifbar machen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das ist die Kernidee jenes pädagogischen Konzepts der Anschaulichkeit, das vor gut drei Jahrhunderten von August Hermann Francke (1663-1727) und seinen Mitstreitern in Halle entwickelt worden ist und als Basis moderner Pädagogik verstanden werden kann. Diesem Thema widmen die Franckeschen Stiftungen jetzt ihre Jahresausstellung, die unter dem Titel „Total real: Die Entdeckung der Anschaulichkeit“ an diesem Samstag für das Publikum im Historischen Waisenhaus öffnet.
Weg vom stupiden Pauken hin zum echten Begreifen, so ließe sich der pädagogische Paradigmenwechsel auf den kürzesten Nenner bringen, mit dem um 1700 unter Franckes Ägide der Unterricht grundlegend reformiert wurde, zumindest am damaligen königlichen Pädagogium Halle. Das war eine von mehreren Schulen Franckes, die aber nur Sprösslingen von Adligen und gut situierten Bürgern vorbehalten war. Wo bis dahin Lehrinhalte eingetrichtert und wiederholt wurden, um im schlimmsten Fall wieder vergessen zu werden, sollte hier Lernen zum bleibenden Erlebnis werden.
Hören, sehen, fühlen
Franckes Bildungsansatz sah vor, dass die zu bildende Jugend begreifen möge. „Es geht um das Begreifen der Welt. Und zwar in des schönen Wortes doppelter Bedeutung: Begreifen als Verstehen und als physisches Erfahren“, sagt Holger Zaunstöck, der die Schau gemeinsam mit Tom Gärtig und Claus Veltmann kuratierte. Lernen sollte zur nachhaltigen Erfahrung werden: durch sinnliches Erleben wie Hören, Sehen und Fühlen. Die theoretischen Grundlagen dazu legten neben August Hermann Francke weitere Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Pädagogik, an die eingangs erinnert wird.
Darunter der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716). Von ihm ist der Nachbau seiner Rechenmaschine zu sehen, aber auch der handschriftliche „Entwurf zu einem Gutachten für eine mathematische und mechanische Schule“, die der Theologe und Pädagoge Christoph Semler (1669-1740) in Halle gründete, die indes über die Testphase nicht hinauskam. Es war die erste „Realschule“, die Semler auch so bezeichnete. „Er wollte der Jugend Wissen mit Hilfe von Objekten näherbringen“, sagt Kurator Tom Gärtig. Schon Semlers erste Unterrichtsstunde war programmatisch, da er seinen Schülern den Aufbau und die Funktionsweise eines Uhrwerks erläuterte.
Der vielseitige Semler legte auch eine Sammlung von Lehrmodellen an, die im Jahr 1718 in den Besitz der Franckeschen Stiftungen überging. Diesen Anschauungsmitteln ist ein eigener Raum gewidmet. Die Schüler des königlichen Pädagogiums lernten also nicht nur Griechisch und Latein und die Werke antiker Autoren und die Heilige Schrift kennen, sondern mit diesen oft detailreichen Holzmodellen wurde ihnen etwa die Funktionsweise einer Brauerei oder der Aufbau von militärischen Festungsbauwerken vermittelt. Und an einer hölzernen Anatomiefigur in Puppengröße konnte man zeigen, wie der Mensch im Inneren beschaffen ist.
Anfassen erlaubt. Das galt auch für den praktischen Unterricht zu Franckes Zeit, weshalb sich die Knaben des königlichen Pädagogiums auch an der Drechselbank und beim Schleifen von optischen Linsen versuchen konnten. Letztere wurden in kleinen, aus Pappröhren gefertigten Teleskop-Fernrohren eingebaut, mit denen die Schüler dann die Sterne beobachteten. Dass die zu bildende Jugend nach diesen greifen möge, könnte ein weiteres Ziel der Bildungsbemühungen Franckes gewesen sein, auch wenn dieses nicht direkt so formuliert wurde.
Universum und Schöpfung
In jedem Fall war die Astronomie, wie in der Schau ebenfalls zu erfahren ist, seinerzeit ein wichtiges Schulfach. Mit der Betrachtung des Universums wollte man den jungen Menschen eine Vorstellung von der Herrlichkeit der göttlichen Schöpfung vermitteln. Im Zentrum des entsprechenden Raumes steht dafür etwa das fragile Holzmodell eines kopernikanischen Weltgebäudes, also ein Modell mit den damals bekannten Planeten, die sich um eine Sonne drehen, die hier jedoch eine Kerze war. Dieses Weltenmodell wird flankiert von einer Hörstation, wo eine sehr junge Erkenntnis der Astrophysik zu erleben ist: Auch wenn die Himmelskunde bislang wenig von ihnen weiß, ist hier zu hören, wie ein Schwarzes Loch klingt.
Ist die Anschaulichkeit, um die sich die Pädagogik vor drei Jahrhunderten bemühte, heute noch von Bedeutung? So lautet die Frage am Ende des Rundgangs. Durchaus, wie das Kuratoren-Team zeigen kann: Und das nicht nur, weil Anschauungsunterricht noch immer wichtig ist. Zuletzt kann man in der Schau etwa mit Hilfe einer Computeranimation ein historisches Modell einer Salzsiederei über Touchscreen dreidimensional erkunden. Das Original zu berühren, wäre aus konservatorischen Gründen nicht mehr ratsam. Und durch Unterstützung von Künstlerischer Intelligenz kommt sogar Bewegung in die Gesichtszüge von August Hermann Francke und seiner Frau Anna Magdalena. Als Vorlage für das mimische Experiment dienten die Porträtgemälde des Paares.
Aus der Vergangenheit lernen. Das wurde selten so überraschend und anschaulich gezeigt wie in dieser Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen, die sich in gleicher Weise an Jugendliche wie an Erwachsene richtet.
„Total real: Die Entdeckung der Anschaulichkeit“: bis zum 2. Februar 2025 in den Franckeschen Stiftungen Halle, Di-So 10-17 Uhr. Der Katalog kostet 28 Euro. Weitere Informationen unter: www.francke-halle.de