Schriftsteller Volker Braun wird 85 Lob der Klimakleberin: „Tauche nicht ab, sei da!“
Der große ostdeutsche Schriftsteller Volker Braun wird 85 Jahre alt und blickt mit dem Buch „Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“ auf die Herausforderungen von Gegenwart und Vergangenheit.
Halle/MZ. - Am Anfang war das Ende, der Blick auf das kriegszerstörte Dresden – „nur die Skelette der Türme vom Mittagslicht legiert“. Auf die sah Volker Braun, das Sonntagskind vom Jahrgang 1939, wenn er sich um seine Geburtsstadt herum die Zeit vertrieb. Eine Jugend zwischen Feldern und Trümmern, auf denen eine neue Flora zu siedeln begann. „Sein Ort“, schreibt der Dichter, „war die Lichtung im Wald, von wo aus er drunten die große Wunde sah. Der Fluss strömte hindurch, und oben der blühende Rand umfasste sie; sie würde sonst nie zu heilen sein.“
Die von Menschen gemachte Trümmerhalde und der „blühende Rand“ drumherum: Das ist bereits ein Verweis auf das Verhältnis von Politik und Natur, das Volker Braun heute neu und verstärkt beschäftigt. Und das er in einen heilenden Einklang zu bringen sucht. Offenkundig eine Art von politischer Ökologie treibt den Schriftsteller um, der an diesem Dienstag 85 Jahre alt wird. Und das feiert er nicht ohne Gabe an die Leser.
Welt ohne Ordnung
„Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“ ist das Prosastück des in Berlin lebenden Büchnerpreisträgers überschrieben, das mit der Dresdner „Urszene“ beginnt. Und das seinem neuen Buch den Namen gibt, das mit dem genannten „Versuch“ noch zwei weitere versammelt: „Versuch, mich auf einer Landmasse zu bewegen“ – eine poetisch-politische Reflexion des eurasischen Kontinents. Und „Versuch, mich mit den Füßen am Boden zu halten“ – eine dialogische philosophische Klärung der Zeitumstände.
Unter diesen „Versuchen“ ist der autobiografische „Fortwährende Versuch“ der zugänglichste. Mit diesem liest der Autor seine eigene Geschichte auf. Auch wenn das in der typisch Braunschen dichten Diktion geschieht – stets bedeutungssteigernd verknappt, beinahe verrätselt, dabei poetisch-philosophisch aufgeladen –, ist hier der Autor als Mitmensch so unverstellt sichtbar wie selten zuvor.
„Der letzte Dreck im Dreck“
Brauns Leben: ein Weg mit und an Gewalten entlang – politisch, geistig, auch erotisch. Der Autor schildert den Weg, der ihn aus den Dresdner Trümmern über die Zertrümmerung der Kohlelandschaft in der Region Schwarze Pumpe, wo er 1959 als Rohrverleger diente („der letzte Dreck im Dreck“), 1960 zum Philosophiestudium nach Leipzig führte. Mit Gewalten war immer zu leben. Einschließlich des Versuches, an der SED-Gewalt teilzuhaben, was nicht ohne Scham über die Bühne ging.
„Wie leicht die Menschennatur, wird sie genug instruiert, in Versuchung kommt, sich Macht anzumaßen“, blickt Braun auf den Studenten zurück, der er war. „Er erfuhr es in dem mächtigen Schweigen, statt aufzuspringen! als dem Kommilitonen Winkelvoß, nach dem Mauerbau, das Blauhemd vom Leib gezogen und er im Unterhemde geext war. Und wieder in dem Moment, als sie unwillkürlich in den Keller der Mensa lauschten und beratschlagten: wieviel Prozent? (Westmusik), und sie sich im Begriff hinabzusteigen und einzuschreiten ertappten, und er beschämt wusste, was für ein erzeugter Unmensch er war.“
Aber nicht bleiben konnte. Braun setzte auf poetische Freiheit, auf Autorität durch Autorschaft. Eine, die auch im demokratisch-oppositionellen DDR-Spektrum geachtet wurde. Ein Buchtitel wie „Training des aufrechten Gangs“ wurde sprichwörtlich.
Der Ukraine-Krieg: ein Brandsatz im Text
Ein marxistischer Enthusiast ist Braun in seinem quirligen, mit Zitaten bewehrten Idealismus geblieben. „Der weltordnende Westen hat keine Ordnung mehr, er nährt sich vom Kollaps“, schreibt er, der staunend Chinas geopolitischen Erfolg registriert. Drumherum: Klimawandel, Flüchtlingszüge, Virenströme. Der Ukraine-Krieg zwingt zu einem „Nachtrag“: Wie „der großrussische Haltsmaul erwacht und in der Ukraine Geschichte diktiert“, schreibt Braun, „das fährt wie ein Brandsatz in meinen Text“. Die Lage: „Das Denken scheint stillzustehn. Der Weltcomputer hat sich aufgehängt und verlangt ein Reset.“
Braun weiß, dass das auch für sein eigenes Schreiben gilt. Die Schule der politisch-philosophischen Dichtung nach Brecht, zu der Braun gehört, reagierte bis 1989 auf einen Mangel an Öffentlichkeit; als der Mangel verschwand, stellte sich die Frage nach der Poesie. Was weiß diese, was andere nicht genauer wissen?
„K“ wird kommen
Braun setzt auf Kapitalismuskritik, Demokratieertüchtigung, einen geläuterten Kommunismus, den er nur noch „K“ nennt. Neu ist der forcierte Natur-Diskurs, deshalb die Anrufung der Flüsse, Meere und Ozeane im Text.
Im Gespräch mit der Klimakleberin Sophie (die Braun ermutigt: „Zahle den Zaster, lasst euch bestrafen. Tauche nicht ab, sei da!“) lässt er den marxistischen „Enzyklopen“ dozieren, dass nicht die „Natur“, die ja Natur bleibe, den Bach heruntergehe, sondern der Mensch. „Die Natur – ist nicht zerstörbar. Zerstörbar ist unsere Lebenssphäre, genau nach den Gesetzen der Natur. Das ist selbst Natur.“ Es gibt gegen die Natur keine Zukunft.
Künftig mit „Natur & Co.“
Die sucht Volker Braun. „Ja, früher hätte man die Welt verlassen, die Zelte abbrechen können. Jetzt gibt es keine Anderwelt mehr, wir sind im Überall“, schreibt er, der nicht von einer Klima-, sondern Kapitalismuskrise spricht. Aber: „Natur & Co., das ist die Firma, in der wir antreten“. Und das ist dann doch ein neues und größeres literarisches Karo als das bislang ausgefüllte.
Volker Braun: Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben. Suhrkamp Verlag, 100 Seiten, 20 Euro