1. MZ.de
  2. >
  3. Mitteldeutschland
  4. >
  5. Kultur
  6. >
  7. Historischer Roman: Das Leben des Hans Gastrow: Karriere mit Russlandknick

Historischer Roman Das Leben des Hans Gastrow: Karriere mit Russlandknick

Mit einer Plastik-Spritzmaschine wollte der Ingenieur Hans Gastrow von Zerbst aus Amerika erobern. Wie es anders kam, erzählt seine Enkelin Simone Trieder.

Von Christian Eger 14.10.2024, 13:11
Schriftstellerin Simone Trieder: dem Großvater auf der Spur
Schriftstellerin Simone Trieder: dem Großvater auf der Spur (Foto: Knorr)

Halle/MZ. - Von Zerbst nach New York, das war der Plan – von der anhaltischen Werkzeugmaschinenfabrik Franz Braun aus an die amerikanische Weltspitze der Plastik-Industrie. Aber vor New York war Zerbst zu erreichen. Und das war für die Familie des genialen Ingenieurs Hans Gastrow die eigentliche Herausforderung.

Tränen flossen reichlich, als der Hausrat 1932 auf den Weg von Berlin aus in die Provinz gebracht wurde. Nicht als Umzug, sondern als Zuführung erlebten Gastrows Frau Vera und deren Töchter den Transport. Kein Kudamm, kein Café Kranzler, kein Kaufhaus des Westens mehr. Statt dessen „Zippelzerbst“. Lange einsame Abende bei langen einsamen Sonnenuntergängen zwischen Elbe und Fläming. Da half nur eins: zur Selbstermunterung das Mantra „Ohne Zerbst kein New York!“

Aufforderung zum Verrat

Und tatsächlich wird es Hans Gastrow 1935 als Geschäftsreisender nach New York schaffen. Gastrow, der Erfinder des Automaten „Isoma“, einer bahnbrechenden Maschine, die flüssiges Plastik erstmals in verschiedenste Formen spritzen konnte. Im Westen was Neues. Und Begehrtes. Gemeinsam mit seinem Zerbster Geschäftspartner überraschte der Berliner vom Jahrgang 1895 die Amerikaner mit seinem neuartigen Verfahren. Über Gastrows NSDAP-Mitgliedschaft wurde bei den Gesprächen in Manhattan hinweggeschwiegen, statt dessen das Angebot gemacht, den Partner zu verraten und nach Amerika zu wechseln. Dazu kam es nicht.

Der Name Gastrow ist heute nur noch in Fachkreisen bekannt, denen er einen Bestseller bescherte. Kein Schmöker, aber ein instruktives, offenbar grundnützliches Sachbuch. Unter dem Titel „Beispielsammlung für den Spritzgieß-Werkzeugbau“ erschien das Werk 1966 im Hanser Verlag und wurde in elf Sprachen übersetzt. Sieben Auflagen erlebte das Buch. Bis heute ist es in überarbeiteten Formen in Umlauf. Aber mehr als die Theorie zählte die Praxis: Ein Können, von dem Hans Gastrow behauptete, dass er damit „ein Fall für die Plastic Hall of Fame“ sei.

So schreibt es die Enkelin von Hans Gastrow, die namhafte hallesche Schriftstellerin Simone Trieder. Die vor allem dokumentarliterarisch erfolgreiche, 1959 in Quedlinburg geborene Autorin widmet sich in ihrem neuesten Buch der eigenen Familien- als Zeitgeschichte. „Gastrow oder Die Poesie der Technik“ heißt das in Roman-Manier gestaltete Lebensbild ihres Großvaters. Denn interessant ist Gastrows Leben durchaus, und das nicht nur in dem Maße, in dem ein jedes Leben – je näher man es betrachtet – von Interesse ist.

Sozusagen eine „Chronik plus“ ist das Ganze, was heißt: eine aus Dokumenten in Belletristik übersetzte Familien- und Geschäftsüberlieferung, gespeist aus Akten, Briefen, Tagebüchern und Hörensagen. Literarische Doku-Fiction. Die startet 1919 mit einer Sommerparty am Wannsee, veranstaltet im vermögenden Teil der Sippe.

„Immer an die Besten halten“

Der 23-jährige Gastrow ist buchstäblich aus dem Häuschen. Er erlebt die Nachkriegs- als eine Aufbruchszeit und wird von den unternehmerischen Verwandten sofort in betriebliche und familiäre Projekte verwickelt. Und siehe da: Er wird nicht enttäuschen.

„Immer an die Besten halten“, heißt es in der Familie. Und an der Technischen Hochschule Charlottenburg hatte doch auch Hugo Junkers studiert! Gastrow setzt im Hauptfach auf Elektrotechnik. Die Familie setzt auf ihn. Und Gastrow schließlich auf seine Plastik-Spritz-Maschine. Warum „Isoma“? Weil sie für das Herstellen von Isoliermaterial für elektrische Leitungen nützlich war  – der Hauptmarkt für Gastrows Erfindung, einzusetzen in Kraftfahrzeugen, Flugzeugen, Schiffen, Betrieben, öffentlichen Gebäuden. Ein Welterfolg – wenn die Weltgeschichte nicht wäre.

Ob er ein Hans im Glück sei, das wird Hans Gastrow 1935 in Amerika gefragt. Da glaubt es der deutsche Techniker noch selbst. So sehr, dass er seiner Familie das Versprechen gibt, dass sie sich über Generationen keine finanzielle Sorgen mehr machen müsse.

Wie es wirklich kam, das führt Simone Trieder mit erzählerisch breiter Palette aus. Überlieferte Fakten werden szenisch gefasst und mit vielen Pinselstrichen gestaltet, um familiengeschichtlich gesicherte Fakten möglichst unaufdringlich unterzubringen.

Was Gastrows Familie bei dem Umzug nach Anhalt spürte, soll sich bewahrheiten: Der Weg nach Zerbst führt nicht nach New York, jedenfalls nicht über die einmalige Dienstreise von 1935 hinaus. Statt dessen in die Sowjetunion, wo der Techniker 1946 mit 2.500 weiteren sogenannten deutschen „Spezialisten“ als Kriegsbeute Aufbauarbeit zu leisten hatte. Vier Stunden Zeit hatte die Familie, um bereitgestellte Holzkisten zu packen, nachdem ein Offizier um fünf Uhr morgens an der Wohnungstür der Gastrows geklingelt hatte.

Bloß nicht verbittern

Dass der Weg zum Ruhm dann eben über Russland führen würde, auch diesen Glauben ließ sich Gastrow nicht nehmen, der 1951 in die DDR entlassen wurde, um sich alsbald in West-Berlin niederzulassen. Freilich galt im Osten das alte Patentrecht nichts und im Westen musste er völlig neu anfangen. Seine Deportation in die Sowjetunion machte ihn verdächtig. Gastrow sprach vom „Russlandknick“ seiner Biografie, der sich auch nie mehr begradigen ließ. Im letzten Teil nimmt das Buch denn auch an Fahrt auf – inmitten der westdeutschen Konkurrenz.

Nicht mehr in New York zu landen, sondern sich nicht verbittern zu lassen, das war schließlich der größte Wunsch des Ingenieurs, der mit 70 Jahren erwog, eine Autobiografie zu verfassen. Er entschied sich aber für das Fachbuch. Den Roman seines Lebens, den der 1968 gestorbene Ingenieur bedachte, aber nicht begann, liefert nun also Gastrows jüngste Enkelin. Kein Märchen, sondern ein in Prosa gefasstes, kultur- und regionalhistorisch sprechendes Kapitel deutscher Wirtschaftsgeschichte zwischen und nach den Kriegen.Buchpremiere: 15. Oktober, 19 Uhr, Literaturhaus Halle, Moderation Alexander Suckel. Simone Trieder: Gastrow oder Die Poesie der Technik. Mitteldeutscher Verlag, 245 S., 20 Euro.