Oper Halle Brittens „Albert Herring“: Märtyrer mit Maibowle
Kräftige Kontraste und sphärische Momente: Am neuen theater Halle ist Benjamin Brittens groteske Kammer-Oper „Albert Herring“ als deutsch-polnische Koproduktion zu erleben.
Halle/MZ. - Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Ost- wie Westdeutschland mit hoher Spottlust ein breites Opern-Spektrum über bigottes Bürgertum. Halles Opernintendant Walter Sutcliffe entschied sich indes nicht für Henzes „Der junge Lord“, von Einems „Der Besuch der alten Dame“ oder Egks „Der Revisor“, sondern als erklärter Anhänger Benjamin Brittens für dessen vierte Oper „Albert Herring“, die am Samstag im neuen theater Halle Premiere hatte.
Klassiker der Opernbühne
Sutcliffe lässt nach seinem Einstand mit Brittens „Sommernachtstraum“ als fantastischer Utopie einer frivol-anarchischen Bürgeroper jetzt mit „Albert Herring“ eine bizarre Gegenwartsburleske als Britten-Projekt Nummer zwei folgen. Im April 2025 folgt der Psychothriller „The Turn of the Screw“. Eine verdiente Hommage der Oper Halle an den „Orpheus Britannicus“: Mit Richard Strauss und Philip Glass ist Britten (1913-1976) heute der meistgespielte Opernkomponist des 20. Jahrhunderts und längst im Klassiker-Kanon etabliert.
Dabei agitiert Karolina Sofulak mit ihrer aus der Aula der Universität Poznan ins neue theater Halle übernommenen Regie weitaus schärfer als bei Klassikern üblich. Schön sind Sofulaks cartoonartigen Figurenzeichnungen und die von Dorota Karolczak überspannt gestalteten Kostüme nicht – dafür grotesk und bedrohlich wie populistische Gedankenschwaden. Radoslaw Cabałas Videos flimmern noch lange nach dem Schlussakkord in den Applaus, wenn der bis dahin viel zu fügsame Albert Herring verschwindet, nach einem befreienden Alkoholexzess seine überprotektive Mutter sitzenlässt und sich ins Getümmel am Händel-Denkmal stürzt.
Für alle Beteiligten ist dieser „Albert Herring“ ein tolles Spiel und Gedankenfutter. Die moralinsaure und in ihren Reifejahren scharf gekleidete Lady Billows (brillant: Anke Berndt) und die gesinnungskonformen Honoratioren pressen den Krämer Albert in die Rolle des Maienkönigs. Denn eine Frau ohne großes Sündenregister – von freizügiger Sexualität bis freizügiger Kleidung – ist trotz angestrengter Suche für die Kür zur Tugendkönigin nicht aufzutreiben. Den scheuen Albert flechten die Kleinstädter später aufs Rad, der so an den Gekreuzigten erinnert. Sie projizieren ihre Unschuldsbegehrlichkeiten auf ihn und fallen nach intensivem Maibowle-Genuss selbst in erotische Trance.
Shirts in Regenbogenfarben
Für die Übertitel zur deutschen Übersetzung von Carol Sittig und Waltraud Gerner ist der gesamte Ethik- und Moraljargon der Jetztzeit aufgeboten. Die Honoratioren des kleinstädtischen Loxford sind Hülsen in männlichen Ämtern oder exaltierte Zicken mit unnachgiebigen Meinungsdiktaten. Das kleinere Übel sind die lesbische Neigungen offenbarende Assistentin Florence Pike (Gabriella Guilfoil) und die Koloraturen fiepsende Lehrerin Miss Wordsworth (Linda van Coppenhagen).
Generell wurde sehr drastisch, deutlich und auch schön gesungen. Robert Sellier ist als Albert wie die anderen schwarz-weiß ausstaffiert, wandelt sich zum bunten Flaneur, artikuliert dennoch eher trocken als schüchtern. Chulhyun Kim (Bürgermeister Upfold), Ki-Hyun Park (Polizeichef Budd) und Gerd Vogel (Pfarrer Gedge) wehren sich mit großer Stimmgeste gegen Brittens rezitativische Vornehmheit.
Lady Billows und mit etwas Nachlässigkeit auch Alberts Herrings Mutter (Ariana Lucas) sind rasende Frauen mit platinblonden Turmfrisuren und hohlen Hoch-Hinaus-Platitüden. Überspitzungen gibt es zahlreiche in diesem fast dreistündigen Opernabend, aber fast nur auf der szenischen Seite. Zwölf Musiker aus der Staatskapelle Halle sitzen auf der Seite, wechseln nach der Pause von schachbrettfarbener Kleidung zu T-Shirts mit Farbklecksen in Regenbogenfarben.
Dass der schwule Komponist Britten nicht nur die eigenen Stigmata, sondern viele Außenseiter-Nischen thematisieren wollte, hört man bei der Premiere noch nicht ganz, weil manches in der tragfähigen Akustik des neuen theaters leider zu laut gerät. Yonatan Cohen am Pult könnte neben akkurater Begleitung durchaus mehr Impuls-Initiative wagen.
Satire, Melos, Grobheit
Die Szene fängt mit Albert am Drehkreuz auch eine Menge christologischer Bezüge ein, findet dann mit den stilisierten Kinderfiguren dann aber immer wieder zu verspielter Komödiantik. Selbst wenn Alberts langer Weg zum Ausbruch im Mittelpunkt dieser Oper steht, hat Britten einen seiner berückendsten Gesangslockrufe dessen Helfern zugedacht.
Spätestens, wenn Andreas Beinhauer (Sid) mit Elvis-Locke und Rosamond Thomas (Nancy) ihr wunderschönes Duett singen, muss man Britten für einen ganz großen Melodiker des 20. Jahrhunderts halten. Satire, Melos, Grobheit – dieser Abend reiht kräftige Kontraste und berückend sphärische Momente. Großer Applaus.
Nächste Aufführungen: 3. Mai um 19.30 Uhr und 9. Mai um 18 Uhr