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Literatur Aus dem Nachlass von Wulf Kirsten: „Woher ich komme“

Über Jahrzehnte schilderte der Schriftsteller Wulf Kirsten die sächsisch-thüringische Landschaft. Jetzt erscheinen autobiografische Texte aus seinem Nachlass.

Von Christian Eger 21.06.2024, 16:33
Schriftsteller Wulf Kirsten (1934-2022): Mann mit meißnischem „Erdmittelpunkt“
Schriftsteller Wulf Kirsten (1934-2022): Mann mit meißnischem „Erdmittelpunkt“ (Foto: Michael Reichel/dpa)

Halle/MZ. - Es hätte für ihn auch alles ganz anders kommen können: das Leben, das Schreiben. Und fast wäre auch alles ganz anders gekommen. Fast. Hätte nur dieser eine Polizist, dem der 18-jährige Wulf Kirsten 1952 am West-Berliner Bahnhof Zoo begegnete, dem aus dem Meißnischen stammenden Steinmetzsohn zur Republikflucht zu- und nicht, wie er es tat, abgeraten.

Rund 13 Stunden war der Jugendliche auf der fast leeren Autobahn von Dresden aus nach West-Berlin gefahren, auf einem Rad der Marke „Wanderer“. Hinein in die Großstadt, hin zu den Kinos, die ihn lockten, nur raus aus dem Osten, fort in den Westen. Ein Aufnahmelager zu finden, um sein „Übersiedlungsvorhaben“ zu verwirklichen, das war der Plan. Aber der Polizist nahm den Flüchtling nur kurz in den Blick und sagte: „Junge, fahr wieder nach Hause.“

Flucht aus Berlin

Wie in Panik griff der Jugendliche – ausgeliefert den Gefühlen „der Ausgesetztheit, der Fremdheit“ – nach seinem Fahrrad, um in der Abenddämmerung den Weg von Berlin zurück nach Dresden zu finden. Der, je dunkler es wurde, immer schwerer zu finden war, und am Ende ganz verloren ging.

Was da geschah, wie buchstäblich halsbrecherisch es zuging, hat Wulf Kirsten notiert, der, wenn ihm der Polizist einen gegenteiligen Rat gegeben hätte, ein Anderer geworden wäre. Und nicht der namhafte, in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur unübersehbare Dichter, Erzähler, Essayist und Herausgeber, der von seinem 1965 bezogenen Hauptwohnsitz Weimar aus die sächsische und thüringische Landschaft beschrieben hat wie kein Zweiter.

„Nachtfahrt“ heißt das Prosastück – so wie der gesamte Band von erstveröffentlichter autobiografischer Prosa, den der in Jena lebende Publizist Jens-Fietje Dwars jetzt aus dem Nachlass des im Dezember 2022 im Alter von 88 Jahren gestorbenen Schriftstellers herausgegeben hat und an diesem Donnerstag im Literaturhaus in Halle präsentiert. Eine Sammlung von Texten, die Kirsten noch selbst zusammengestellt hatte, illustriert mit Kaltnadelradierungen der im Saalekreis lebenden Grafikerin Susanne Theumer, die mit dem Dichter befreundet war.

Wovon er träumte: ein Bundesland aus dreien

Wulf Kirsten, ein Dichter, der über das Erlebnis von Landschaft zur Literatur kam, über Dinge, Menschen und Worte, die er mit buchhalterischer Genauigkeit zu erfassen suchte. Ein Dutzend Gedichtsammlungen hat der weit über Deutschland hinaus gelesene Autor veröffentlicht. Titel wie „Stimmenschotter“, „Wettersturz“ und „die erde bei meißen“. Erinnerungen an die Kindheit, literaturhistorische Essays und Anthologien kamen hinzu. Jener Landschafts- und Kulturraum zog ihn an, den heute die Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen markieren, und die Kirsten nach 1989 gern zu einem Bundesland vereint gesehen hätte.

In seinem Werk ist das zu haben. Und jetzt auch in der durchweg überraschenden, die Persönlichkeit des Schriftstellers neu und schärfer ausleuchtenden Prosasammlung. Mit welcher Ernsthaftigkeit, mit welcher fast umständlichen Genauigkeit Kirsten die Welt betrachtete, das ist hier zu erleben.

Insgesamt 13 Prosastücke sind versammelt, zudem eine unter dem Titel „Gehügelter Landstrich“ von Kirsten statt eines Nachworts verfasste Selbstauskunft und ein Text zu den Grafiken von Susanne Theumer. Ein Nachwort von Jens-Fietje Dwars feiert den Autor als einen präzise beschreibenden „Landschafter“ und nicht Landschaftsschwärmer.

„Alles tot. Pleite. Millionen in den Sand gesetzt“

Ein Schwärmer, das zeigt der Band, ist Kirsten, der gern mit Messtischblättern wanderte, nie gewesen. Statt dessen ein erschütterbarer, aber von Entschiedenheit getriebener Erkunder, der Landschaft immer als ein soziales Gelände begriff, das er über die Geschichte von Menschen erschloss, den ihm verwandten und bekannten, und der im Meißnischen seinen „Erdmittelpunkt“ fand.

So lauscht Kirsten seinen ersten, bislang öffentlich versiegelten Kriegserfahrungen hinterher und recherchiert das Schicksal von im Nachkrieg verlorenen Mitschülern. Er beschreibt die verlorene bäuerliche Lebensform, erinnert die zwei Jahrzehnte als Verlagslektor des Aufbau Verlages in Weimar und geht nochmal die frühen Wege ab, Landstriche des Niedergangs, die ihn als „Fremder“ zurücklassen: „Alles tot. Pleite. Millionen in den Sand bzw. Lehm gesetzt. Riesenflächen versiegelt, die fruchtbarste Erde weit und breit der Landwirtschaft entzogen.“

„Nachtstück“ ist, aufs Ganze gesehen, kein heiterer Titel, kein heiteres Buch. Die Welt, die Kirsten beschreibt, ist nicht nur vergangen, sondern verloren, auch in Teilen zerstört. Davor schreckt Kirsten nicht zurück. Er ist kein Schönfärber. Er kennt, wovon er schreibt.

Ein Land, kein Staat

In seiner sehr konkreten Land- und Leute-Hingabe ist Wulf Kirsten vergleichbar mit dem gleichaltrigen Uwe Johnson. Voll von Empathie, aber frei von Sentimentalität. Und stets nach eigenem Augenschein. Denn erst dann, schreibt er, „weiß ich, woher ich komme und daß ich gute Gründe habe, mich zu einem Landstück zu bekennen, das eben nicht mit kurzlebigen Staats-Konstruktionen gleichzusetzen ist.“

Wulf Kirsten: Nachtfahrt. Autobiografische Prosa aus dem Nachlaß. Edition Ornament, 176 Seiten, 22 Euro.