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Krankes Mädchen aus Wolfen Krankes Mädchen aus Wolfen: Neugeborenen-Screening verhindert geistige Behinderung

Von Bärbel Böttcher 17.02.2016, 08:06
Melanie Hoffmann und Christian Seidel mit ihren Töchtern Mia und Maja. Sie sitzen vor einer Pyramide aus Dosen mit Spezialnahrung. 70 Euro kostet eine davon. Die Kosten übernimmt die Krankenkasse. Ob es später einen Zuschuss für andere teure Spezialnahrung gibt, ist noch offen.
Melanie Hoffmann und Christian Seidel mit ihren Töchtern Mia und Maja. Sie sitzen vor einer Pyramide aus Dosen mit Spezialnahrung. 70 Euro kostet eine davon. Die Kosten übernimmt die Krankenkasse. Ob es später einen Zuschuss für andere teure Spezialnahrung gibt, ist noch offen. Andreas Stedtler

Bitterfeld-Wolfen - Diesen Anruf vom Bitterfelder Krankenhaus wird Melanie Hoffmann ihr Leben lang nicht vergessen. Die 29-Jährige hatte dort am 15. September 2015 ein kleines Mädchen zur Welt gebracht und wenige Tage später mit ihm die Klinik verlassen. Sie und ihr Lebensgefährte Christian Seidel waren einfach nur glücklich. Maja war ein Wunschkind. Auch die dreijährige Mia schloss das Schwesterchen sofort ins Herz. Und dann, genau eine Woche nach Majas Geburt, dieser Anruf: Der jungen Mutter wurde mitgeteilt, dass mit den Blutwerten ihrer Tochter etwas nicht stimme. Sie solle mit dem Kind umgehend in der Klinik erscheinen, es müsse eine zweite Probe entnommen werden. Diese brachte dann Gewissheit. Maja leidet unter einer seltenen Stoffwechselerkrankung. Phenylketonurie (PKU) ist ihr Name. Wenn nicht rasch gehandelt wird, kann sie zu einer schweren geistigen Behinderung führen.

Für Melanie Hoffmann und die ganze Familie war das ein Schock. Noch am selben Tag wurde der Säugling in der Magdeburger Universitätskinderklinik, die auf diese Stoffwechselerkrankung spezialisiert ist, stationär aufgenommen. Gemeinsam mit der Mama.

Festgestellt wurde Majas Erkrankung durch das Neugeborenen-Screening - eine Regelleistung der gesetzlichen Krankenkassen. Für die Untersuchung nehmen Mediziner den Babys zwischen der 36. und 72. Stunde nach ihrer Geburt Blut ab, in der Regel aus der Ferse. Das Blut wird auf eine eigens dafür entwickelte Filterpapierkarte getropft, getrocknet und dann sofort in ein Screening-Labor geschickt. Dort wird es mit modernsten Methoden untersucht. 14 Seltene Erkrankungen stehen derzeit auf der Liste (siehe Text: Seltene Erkrankungen). Außerdem gehört zum Screening ein Hörtest.

Die Blutanalysen übernimmt für alle in Sachsen-Anhalt geborenen Kinder das Stoffwechselzentrum am Universitätsklinikum Magdeburg. Hier wurde die Phenylketonurie der kleinen Maja entdeckt. Und hier wird sie jetzt auch behandelt.

Ein Leben lang Diät

Melanie Hoffmann hatte nie zuvor von dieser Krankheit gehört. „Als die Diagnose gestellt wurde, habe ich viel geweint“, erzählt sie. Sie habe sich die Frage gestellt: Was ist in der Schwangerschaft falsch gelaufen? Antworten fand sie während des Krankenhausaufenthalts in Magdeburg. So erfuhr sie dort, dass PKU eine angeborene Störung im Stoffwechsel der Aminosäure Phenylalanin ist. Phenylalanin ist ein normaler Bestandteil der Nahrung - auch der Muttermilch. Es wird im Körper durch ein Enzym zu einer anderen Aminosäure, dem Tyrosin, umgebaut. Beides sind lebenswichtige Bausteine des körpereigenen Eiweißes.

Wenn dieser Umwandlungsprozess jedoch gestört ist, das heißt, der Körper nur einen Bruchteil des zugeführten Phenylalanins verarbeiten kann, sammelt sich dieser Stoff im Körper und führt zu einer Vergiftung. Die Folge sind Krampfanfälle, Spasmen und letztlich eine schwere geistige Behinderung. Unbehandelt machen sich erste Anzeichen der Erkrankung, die hierzulande bei einem von 10.000 Neugeborenen auftritt, im Alter von fünf bis sechs Monaten bemerkbar.

PKU ist zwar nicht heilbar. Doch - wie bei Maja - rechtzeitig erkannt, können sich betroffene Kinder ganz normal entwickeln. Vorausgesetzt, sie halten ein Leben lang eine Spezialdiät ein, denn dem Körper darf nur so viel Phenylalanin - sprich: Eiweiß - zugeführt werden, wie er auch tatsächlich noch verarbeiten kann.

Dass die Ärzte ihrer Tochter eine ganz normale Entwicklung voraussagten, dass sie einmal ganz normal eine Kita und später die Schule besuchen kann, beruhigte Melanie Hoffmann erst einmal. Und während die Mediziner sich bemühten, Majas Blutwerte zu normalisieren, lernte sie von einer Diätassistentin in der Klinik, Mahlzeiten für den Säugling zuzubereiten. Was vor allem eine Rechenaufgabe ist. Es gilt, den Eiweißgehalt der „normalen“ Nahrung genau zu berechnen und zum Bedarf des Kindes in Beziehung zu setzen. Daraus ergibt sich dann, wie viel an eiweißarmer Spezialnahrung zugefüttert werden muss. Anfangs erhielt Maja noch spezielle Fertignahrung. Jetzt darf sie auch schon Brei essen - hergestellt aus Kartoffeln und Möhren. Aber auch hier muss alles genau abgewogen werden.

Melanie Hoffmann weiß, dass das im Moment noch einfach ist. Aber sie macht sich schon Gedanken, wie es wird, wenn das Kind größer ist. Brot und Brötchen, Fleisch, Fisch, Eier, Milchprodukte und auch Hülsenfrüchte - alles ist für das Kind tabu. Es ist auf industriell hergestellte Spezialnahrung angewiesen, die über Kataloge bestellt werden muss. Maja darf nie Schokolade essen, die ihr vielleicht die nette Nachbarin schenkt, niemals unterwegs einfach so ein Eis schlecken. Und wenn sie zu einem Kindergeburtstag eingeladen wird, dann muss sie ihr Essen mitbringen. Alles andere kann ihr gefährlich werden.

Die Angst bleibt

Die Eltern versuchen bereits jetzt, Schwester Mia mit der Situation vertraut zu machen, ihr zu erklären, dass sie der kleinen Schwester von ihren Plätzchen, von ihrer Schokoladentafel niemals etwas abgeben darf.

Neben Phenylketonurie (PKU)  wird beim Neugeborenen-Screening nach Krankheiten  wie   Biotinasemangel, Galaktosämie oder Hypothyreose gesucht. Sie haben wie  PKU unbehandelt eine  geistigen Behinderung zur Folge. Andere wie  zum Beispiel MCAD-Mangel führen unerkannt zum Tode.

Am Sonnabend  findet  zwischen 9.30 und 15.30 Uhr am Städtischen Klinikum Dessau zum sechsten Mal der „Tag der Seltenen Erkrankungen“ statt. Mit  Unterstützung der Neurofibromatose Regionalgrupppe Sachsen-Anhalt wurde ein Forum  zum Informations- und Erfahrungsaustausch geschaffen. Die Anliegen der Betroffenen sollen  in die Aufmerksamkeit der  Gesellschaft gerückt werden. Patienten-Selbsthilfegruppen aus ganz Deutschland, Vereine, Organisationen und Ärzte werden an diesem Tag in Dessau zusammengebracht. Schirmherr  ist Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU).

Rund vier Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer Seltenen Erkrankung. Mehr als 5.000 von insgesamt 30.000 Krankheiten gelten als selten. Das trifft zu,  wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen darunter leiden.

Mittlerweile hat sich die Situation eingespielt. Und dennoch hat Melanie Hoffmann immer Angst, irgendetwas falsch zu machen, irgendetwas nicht richtig zu berechnen. Obwohl das noch nicht vorgekommen ist, ist es ihr eine Beruhigung, dass die Blutwerte der kleinen Tochter wöchentlich in Magdeburg kontrolliert werden. Dazu musste sie lernen, ihr Blut abzunehmen. Immer freitags wird das eingeschickt. Am Montag erhält sie telefonisch das Resultat. „Das Wochenende verbringe ich in Erwartung der Werte schon immer ganz unruhig“, sagt sie.

Unterstützung erhält die Familie von den Eltern des jungen Vaters. Gerald Seidel übernimmt schon mal Fahrdienste oder hilft bei der Berechnung der Nahrung. Ramona Seidel erzählt, dass sie oft die Betreuung der älteren Schwester übernimmt. Aber bei aller Mühe, die sie jetzt haben: „Wir sind froh, dass es Möglichkeiten gibt, diese Krankheit frühzeitig zu erkennen“, sagt Gerald Seidel.

Etwa 17 000 Kinder werden pro Jahr in Sachsen-Anhalt geboren und in den ersten Lebensstunden auf Seltene Erkrankungen untersucht. Das ist zwar freiwillig. Aber Professor Klaus Mohnike, der im Stoffwechselzentrum am Uni Magdeburg das Neugeborenen-Screening verantwortet, spricht von einer 100-prozentigen Teilnahme. „Die Eltern sind doch sehr vernünftig, weil der Nutzen groß ist“, sagt er. Etwas mehr als zehn Kinder werden jährlich gefunden, die eine von diesen Seltenen Erkrankungen in sich tragen. Das klingt wenig. „Doch wer einmal ein Kind gesehen hat, dass von einer solchen Krankheiten gezeichnet ist, der kann ermessen, welches Leid das über die Familien bringt“ sagt er. „Was ist dagegen schon ein kleiner Pikser?“

Oftmals weite Wege

Mohnike erzählt von einem an PKU Erkrankten, bei dem in den Wirren der Wendezeit die Blutprobe verloren gegangen sei. Es habe damals ein paar Monate gegeben, in denen die alten Strukturen zusammengebrochen, die neuen jedoch noch nicht aufgebaut waren. Die Auswirkungen für den Betroffenen waren tragisch. Er sei heute geistig schwer behindert.

PKU war übrigens eine der ersten Stoffwechselerkrankungen, auf die Neugeborene routinemäßig untersucht wurden. Das geschah bereits in den 60er Jahren - in beiden Teilen Deutschlands. Im Laufe der Zeit wurden weitere Erkrankungen in den Katalog aufgenommen, der ständig überarbeitet wird. Welche das sind, das legt eine Fachkommission fest. „Voraussetzung ist, dass es Labormethoden gibt, sie rechtzeitig vor ihrem Ausbruch zu erkennen“, sagt Mohnike. Und es müsse auch geeignete Behandlungsmöglichkeiten dafür geben. Ab Juli dieses Jahren kommt übrigens die Mukoviszidose hinzu.

Nicht alle Kinder, bei denen eine Seltene Erkrankung festgestellt wird, werden in Magdeburg behandelt. Sie brauchen oftmals Spezialisten, die nicht gleich um die Ecke wohnen. Aber Mohnike hat die Erfahrung gemacht, dass Eltern auch gern weitere Wege in Kauf nehmen, wenn es um die Gesundheit ihrer Kinder geht.

Melanie Hoffmann und Christian Seidel reisen mit ihrer Maja regelmäßig von Wolfen nach Magdeburg. Alle zwei Monate wird sie dort auf Herz und Nieren geprüft. Sie sind froh darüber, das es bisher keinen weiteren Anruf gab, der ihnen einen Schreck versetzt hat. (mz)

Einmal in der Woche muss bei der kleinen Maja Blut abgenommen werden.
Einmal in der Woche muss bei der kleinen Maja Blut abgenommen werden.
Stedtler