Interview mit Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß Interview mit Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß: "Es gibt mehr als zwei Geschlechter"

Merseburg - Junge? Mädchen? Das sei nur eine Zuschreibung der Gesellschaft, meint der Merseburger Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß. Unser Redakteur Alexander Schierholz sprach mit ihm.
Herr Voß, ein junger Mensch, der sich weder als Junge noch als Mädchen fühlt: Ist das eigentlich normal?
Voß: Es gibt bisher nur sehr wenig Forschung auf diesem Gebiet. Klar ist aber bereits, dass die Geschlechterbildung schon biologisch ungleich komplexer ist als allgemein angenommen. Das heißt, es gibt mehr als zwei Geschlechter. Insofern ist das tatsächlich normal. Die Festlegung auf männlich und weiblich ist eine Zuschreibung unserer Gesellschaft, und sie grenzt diejenigen aus, deren Geschlecht sich nicht eindeutig zuordnen lässt.
Eine Zuschreibung?
Voß: Ja. Das Geschlecht wird mit der Geburt festgelegt und bleibt dann so. Aber es gibt eben Menschen, bei denen eine solche Zuordnung nicht möglich ist. Andere Länder sind da weiter als Deutschland. In Argentinien oder Pakistan zum Beispiel gibt es eine dritte Geschlechterkategorie.
Wie viele Menschen betrifft das in Deutschland?
Voß: Es gibt nur Schätzungen, die gehen davon aus, dass zwei bis sieben Prozent der Bevölkerung geschlechtervariant oder transgeschlechtlich sind.
Betroffene berichten von Demütigungen und Schikanen. Ist das Alltag für diese Menschen?
Voß: Zum Teil ja. In urbanen Räumen ist man auch in Deutschland häufig toleranter. Aber in kleineren Städten und ländlichen Gegenden sind einige noch nicht ausreichend vorbereitet, dass Menschen auch ihr eigenes Geschlecht selbstbestimmt festlegen – auch gegen die Einordnung bei Geburt. Diese Menschen sind in ländlichen Regionen leider noch immer gut beraten, einen Selbstverteidigungskurs belegt zu haben.
Sie haben andere Länder als Beispiel genannt. Was würde es helfen, wenn der Staat sich toleranter zeigt?
Voß: Den Betroffenen eine ganze Menge. Eine dritte, offene und frei wählbare, Geschlechterkategorie, die im Ausweis steht, könnte etwa möglicher Diskriminierung von Seiten der Behörden vorbeugen. Gleichzeitig verändern staatliche Akte nicht gleich das gesellschaftliche Klima. Hier gilt es für geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung zu werben und interessierten Menschen zu erläutern, warum es für andere Menschen so wichtig ist, ihr Geschlecht und ihre Sexualität frei und selbst zu bestimmen.
Wie kann man geschlechtervarianten oder transgeschlechtlichen Menschen sonst noch helfen?
Voß: Da kann jeder bei sich anfangen. Zunächst geht es darum Zivilcourage zu zeigen, wenn jemand angegriffen wird, also einzugreifen oder Hilfe zu holen. Und man sollte sich fragen: Wie würde ich reagieren, wenn mein Kind so wäre? Ich würde es akzeptieren, so wie es ist, gerade weil ich möchte, dass es ihm gut geht. Genau darum geht es. (mz)