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Internet Internet: Im Club der Denunzianten

Von Katrin Löwe 05.09.2008, 17:52

Halle/MZ. - In Neustadt wohnt der "größte Dummschwätzer in ganz Halle. Macht einen auf Proll und labert den ganzen Tag nur Dünnes." Im Univiertel ist der Drogenhändler zu finden, im nächsten Stadtteil einer, "der stellt kleinen Jungen nach und fährt besoffen Auto." In einem Dorf in Mansfeld-Südharz lebt der "größte Assi" des Kreises. Und wer wissen will, wo angeblich nach Stasi-Methoden gelebt wird oder "stinkende Familien" wohnen, wird auch in anderen Orten Sachsen-Anhalts fündig.

Nie war Denunzierung so leicht wie heute - dank Internet und einer inzwischen auch in Deutschland in massive Kritik geratene amerikanischen Webseite: Auf Rottenneighbor.com (frei übersetzt "mieser Nachbar") kann jeder anonym über seinen Nachbarn herziehen, auch mit Name, Adresse und Bild. Ungeprüft landen die virtuellen Attacken im Netz. Rottenneighbor nutzt dafür die frei verfügbaren Luftaufnahmen der Suchmaschine Google. Hinter jedem roten Haus-Symbol versteckt sich ein Eintrag über einen "schlechten Nachbarn". Über Zoomfunktion können die Originalhäuser teilweise auch ohne Adresseintrag identifiziert werden.

Betreiber Brant Walker aus San Diego bezeichnet die im Juli 2007 gegründete Seite als wichtiges Werkzeug für Haus- und Wohnungssuchende, die sich nicht von unangenehmen Nachbarn überraschen lassen wollen. Statt dessen aber wird inzwischen beschimpft, was das Zeug hält - und das oft in niveaulosestem Gossenslang.

Datenschützer und Medienexperten sind entsetzt. Als "widerliches Angebot" und Eingriff in die Persönlichkeitsrechte bezeichnet Bundesdatenschützer Peter Schaar die Seite. Aus gutem Grund sei der analoge Pranger vor Jahrhunderten abgeschafft worden, sagt der nordrhein-westfälische Direktor der Landesanstalt für Medien, Norbert Schneider. Beide protestieren dagegen, dass Google seine Karten zur Verfügung stellt - der Suchmaschinen-Gigant aber wehrt sich gegen Vorwürfe. Sie stünden frei zur Verfügung, würden von hunderttausenden Webseiten genutzt, so Sprecher Kai Oberbeck. "Es kann nicht unsere Aufgabe sein, da als Sherriff aufzutreten." Dennoch habe man die Kritik an den Webseitenbetreiber weitergeleitet - mit der Bitte, sie zu beachten. Dass die Seite tagelang von vielen deutschen Internetanschlüssen aus nicht mehr erreichbar war, damit habe Google indes nichts zu tun.

Verkommt das Internet zum "Debattierclub von Anonymen, Ahnungslosen und Denunzianten", wie ein Journalist jüngst schrieb? Es biete viele Chancen, heißt es in einer Einladung des deutschen "Netzwerkes Medienethik" für die Jahrestagung 2009, die sich mit dem Thema Ethik im Internet beschäftigt. Andererseits konstatieren die Experten: "Kein anderes Medium bietet ein derartiges Potenzial für die Verbreitung von Lügen, Gerüchten und Verschwörungstheorien."

Und nicht erst seit Rottenneighbor wird über Verleumdungen im Netz diskutiert: Lehrer etwa wehren sich gegen Internet-Mobbing ihrer Schüler, die Lehrer-Benotungsseite Spickmich.de wurde sogar zum Fall für Gerichte, weil die Pädagogen sich in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt sahen. Die Richter erlaubten die Benotung, sofern sie die Grenze von Schmähkritik nicht überschreitet. "Es war ernüchternd, wie ungeschützt Lehrkräfte sind", so Peter Silbernagel, Vorsitzender des Philologenverbandes Nordrhein-Westfalen, bei dem eine Initiative "Gegen Gewalt Gegen Lehrer" gegründet wurde. Was im Netz passiert, sei zum Teil unkontrollierbar, sagt Thomas Lippmann von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Sachsen-Anhalt. "Es ist ja kein Problem, eine eigene Webseite aufzumachen."

Portale wie Spickmich, sagt Silbernagel, sind aber längst nicht mehr die größte Sorge. Deren Betreiber würden inzwischen selbst sensibler reagieren und eingreifen. Seiten wie die Video-Plattform Youtube, auf denen Lehrer unfreiwillig zu Darstellern werden, "erreichen eine ganz andere Dimension", so Silbernagel. "Schüler haben da oft kein Rechtsempfinden und wissen nicht, wie nachhaltig Menschen aus der Bahn geworfen werden."

Was derweil aus Rottenneighbor wird, bleibt abzuwarten. Ein Verbot der Seite in den USA erscheine derzeit wenig realistisch, sagt ein deutscher Anwalt. Übrigens: Natürlich können auf Rottenneighbor auch nette Nachbarn mit Hilfe eines grünen Haus-Symbols eingetragen werden. Nur machen das eben die wenigsten.