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Hochwasser im Harz Hochwasser im Harz: Schutz fehlt seit 20 Jahren

Von Hendrik Kranert-Rydzy und Melain Müller 22.04.2014, 13:54
Wassermassen ergossen sich vor 20 Jahren durch das Selketal, betroffen war auch Alexisbad. Der Bau eines Damms ist bis heute umstritten.
Wassermassen ergossen sich vor 20 Jahren durch das Selketal, betroffen war auch Alexisbad. Der Bau eines Damms ist bis heute umstritten. Jürgen Meusel Lizenz

Meisdorf/MZ - Frederik und Günther hatten ein Einsehen mit dem Harz. Im Juni 2013 bewegten sich die Tiefdruckgebiete kaum von der Stelle. Der Dauerregen, den sie im Juni über Bayern, Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt ausschütteten, erreichte zu großen Teilen das nördlichste Mittelgebirge Deutschlands nicht. Zum Glück. Den Anrainern an Bode, Selke und Wipper blieb damit erspart, was die Anwohner an Saale, Elster und Elbe wochenlang in Atem hielt - ein katastrophales Hochwasser.

Im Unterharz weiß man, wie sich das anfühlt, über Nacht Hab und Gut zu verlieren und nicht viel mehr als das nackte Leben retten zu können. Genau vor 20 Jahre hatte ein schlimmes Hochwasser die Region heimgesucht.

„Es hat nicht viel gefehlt und es hätte auch wieder den Harz erwischt“, hat Burkhard Henning nach der Katastrophe im Juni 2013 gesagt. Henning ist Chef des Landesbetriebes für Hochwasserschutz (LHW). Der groß gewachsener Mann mit schütteren, grauen Haaren rollt in solchen Momenten gern mit den Augen. Wer ihn kennt, weiß, was das bedeutet: „Wir könnten im Harz, vor allem im Selketal, schon viel weiter sein im Hochwasserschutz.“ Einiges ist zwar passiert, doch gemessen an der Gesamtproblematik sind die ganzen Flusslauf-Verbreiterungen, Uferbefestigungen und Wehrreparaturen nur Beiwerk für ein gewaltiges Projekt: Henning will drei Dämme für sogenannte „grüne Rückhaltebecken“ bauen - einen im Wippertal westlich von Wippra (Landkreis Mansfeld-Südharz) und zwei im Selketal bei Meisdorf und Straßberg (Landkreis Harz). Kosten: rund 50 Millionen Euro. Laut Henning die einzige Chance für einen wirksamen Hochwasserschutz an Wipper und vor allem Selke.

50 Millionen Euro Kosten

Detlef Mahlo ist auch ein groß gewachsener Mann mit weißem Haupthaar. Den Ballenstedter eint mit Henning, dass beide gut zuhören können und auch dann nicht laut werden, wenn sie für ihre Sache argumentieren. Mahlo argumentiert gegen Hennings Staudämme. Seit Jahren. Unermüdlich. Und mit Vehemenz. Mahlo ist von Hause aus Architekt und ehrenamtlicher Geschäftsführer der Bürgerinitiative „Rettet das Selketal“. Keine Gruppe von spinnerten Ökos, sondern Menschen, die selbst vom Hochwasser 1994 betroffen waren - etwa ein ehemaliger Hotelier oder die Familie, die mitten im Selketal einen Gasthof mit Pension betreibt. Und CDU-Mann Mahlo saß am 13. April 1994 als Landrat in seinem Quedlinburger Büro, als gut die Hälfte seines Kreises „Land unter“ meldete. „Ich war sozusagen von Amts wegen betroffen“, sagt der heute 73-Jährige.

In den Monaten vor der Katastrophe hatte es im Harz doppelt so viel wie üblich geregnet. Die Talsperren an der Bode waren randvoll, die Böden des Gebirges tropften wie ein Schwamm vor Nässe. Dann kam ein Wintereinbruch, der noch einmal jede Menge Schnee in die Hochlagen brachte. Und im Anschluss das Tiefdruckgebiet „Pallas“. Es schaufelte nicht nur weitere Millionen Liter Wasser über das Gebirge, sondern ließ den Schnee im Fön blitzschnell schmelzen. In der Nacht zum 13. April liefen erstmals in ihrer Geschichte die Talsperren des Bode-Systems über. Das sah zwar atemberaubend bedrohlich aus, hatte aber keine Auswirkungen auf die Standfestigkeit. Für die Anrainer im Unterlauf jedoch schon - sie versanken im Wasser, die Quedlinburger Altstadt drohte überflutet zu werden.

Schlimmer aber noch erwischte es das Selketal. Die Selke, ein gut 60 Kilometer langes Flüsschen, plätschert normalerweise beschaulich dahin. Ihr Tal gilt als eines der schönsten im Harz, ist bei Wanderern und Radfahrern gleichermaßen beliebt. Bei starkem Regen aber kann die Selke rasch ungemütlich werden. Weil Dutzende Bäche und Bächlein in ihrem Einzugsgebiet liegen, schwillt der Pegel der Selke innerhalb von Stunden um das Hundertfache an. Im April 1994 wurde so aus einem zentimetertiefen Rinnsal ein 1,50 Meter tiefer Fluss. Genau das macht den Schutz vor Hochwasser so kompliziert. Seit 2002 stehen die Planungen, aber bis heute ist nichts passiert. „Das ist unbefriedigend für die Betroffenen“, sagt Henning. Erst in dieser Woche war er bei einer Bürgerversammlung in Reinstedt am Unterlauf der Selke und hat sich zum x-ten Mal Forderungen anhören müssen, endlich tätig zu werden. Die Landesregierung steht bei den Betroffenen im Wort.

Das weiß auch Mahlo: „Man hat ihnen 1994 versprochen, sie müssten sich nicht kümmern, das mache das Land“, erinnert sich der Ex-Landrat. Heute, nach der Flut 2013, propagiere die Landesregierung aber auch die Hilfe zur Selbsthilfe. Für Mahlo ist selbstverständlich, dass der, der im Hochwassergebiet wohnt, sich selber mit Sandsäcken und Platten für Fenster und Türen eindeckt. „An Rhein und Mosel machen sie das jedes Jahr.“ Doch von den Selketalern könne man das nach den Versprechungen nicht mehr verlangen, „gesagt ist gesagt“.

Mahlo hält einen wirksamen Hochwasserschutz an der Selke auch für machbar, aber eben nicht um jeden Preis. „Ich unterstreiche, dass der Schutz des Menschen Vorrang vor allem hat. Aber 1994 gab es an der Selke keinen Personenschaden - trotz eines 200-jährigen Hochwassers.“ Er sehe daher den Schutz der Menschen im Selketal nicht gefährdet - aber den Schutz einer einzigartigen Natur.

Denn die Planungen des Landesbetriebs für Hochwasserschutz sehen vor, südwestlich von Meisdorf einen zwölf bis 15 Meter hohen Damm zu errichten. Und einen ähnlichen zehn Kilometer flussaufwärts bei Straßberg. Vor allem der Meisdorfer Damm sei „eine ökologische Katastrophe“, sagt Mahlo. Allein die bis zu zweijährige Bauzeit würde für erhebliche Probleme für Natur und Tourismus sorgen.

Beispiel Autobahnplanung

Die Angst kommt nicht von ungefähr: Im Wippertal hat der LHW in diesen Tagen mit den vorbereitenden Arbeiten für den geplanten Damm begonnen: Vier Hektar Wald werden dafür gerodet, zwei Hektar allein für einen Steinbruch, um Baumaterial zu gewinnen. „Damit aber die Umweltverbände nicht beteiligt werden müssen, wurden die Verfahren zur Waldumwandlung einfach gesplittet“, kritisiert die Landeschefin des Naturschutzbundes, Annette Leipelt, und konstatiert: „Es scheint politischer Wille in diesem Land zu sein, die Verbände immer wieder auszutricksen.“ Henning bestreitet das vehement und verweist auf dutzende Gespräche. Tatsache ist: Ein Raumordnungsverfahren für Straßberg und Meisdorf, das den Umweltverbänden eine Beteiligung möglich gemacht hätte, wurde trotz gegenteiliger Zusagen nicht eingeleitet.

Den wohl größten Schaden aber dürfte das sensible Selketal erleiden, wenn im Hochwasserfall das Rückhaltebecken geflutet wird. Ein über zehn Meter tiefer und 2,5 Kilometer langer See entstünde. „Wenn das Wasser weg ist, bleiben eine meterdicke Schlammschicht, Müll und Geröll zurück. Da ist dann auf Jahre alles tot“, sagt Mahlo. Und verweist auf Alternativen.

Die kennt auch Annette Leipelt, doch: „Die wurden - entgegen früherer Versprechungen - nie ernsthaft vom Landesbetrieb geprüft.“ Stimmt nicht, sagt Henning. Man habe alle vier Varianten geprüft. Etwa mit mobilen Anlagen. Der Pegel der Selke aber steige so schnell, dass dafür keine Zeit bleibe. „Wir brauchen eine Lösung, die dauerhaft verlässlich ist“, erklärt Henning. Und die mit den Dämmen sei daher „alternativlos“.

Eine Einschätzung, die laut Leipelt für das Land zum Bumerang werden könnte: „Nach dem Urteil zur Autobahn 143 müsste auch dem letzten Planer klar sein, dass die EU bei europäisch bedeutsamen Schutzgebieten wie dem Selketal sehr wohl sehr viel Wert auf Alternativen legt.“ Die Westumfahrung der A 143 um Halle liegt seit Jahren auf Eis, weil eben ökologisch weniger problematischere Varianten nicht in die Planungen einbezogen wurden. Während 20 Jahre nach der Flut in Wippra der Bau beginnt und in Straßberg das Genehmigungsverfahren für Damm und Rückhaltebecken angelaufen ist, steht derzeit völlig in den Sternen, wann es in Meisdorf weitergeht. Sollte das Land am geplanten Damm festhalten, hat Leipelt bereits eine Klage angedroht.

Als sich das Wasser im April 1994 zurückzogen hatte, wurden die riesigen Schäden in Alexisbad erst richtig sichtbar.
Als sich das Wasser im April 1994 zurückzogen hatte, wurden die riesigen Schäden in Alexisbad erst richtig sichtbar.
Jürgen Meusel Lizenz