Großrückerswalde im Erzgebirge Großrückerswalde im Erzgebirge: Berufsausbildung in der Drogenklinik

Grossrückerswalde/MZ - Sein Bett ist gemacht, die Heizung heruntergedreht, wenn er das Fenster öffnet, das Zimmer aufgeräumt. Rainer (Name geändert) sitzt auf seinem Stuhl unter dem Dachfenster und grinst. „Kostet sonst alles Batzen“, sagt er. So heißt die virtuelle Währung in der „Alten Flugschule“ in Großrückerswalde, einer Fachklinik für Drogenabhängige im Erzgebirge. Rainer stammt aus dem Harzkreis und ist seit zehn Wochen da. Die spezielle Währung, Anreiz sich an Regeln und Strukturen zu orientieren, aber auch Strafe für die eine oder andere Sünde, kennt er nun aus dem Effeff. Der 18-Jährige hat am Anfang einige Batzen eingebüßt, schon weil er beim Küchendienst vergaß, die Schuhe zu wechseln. Man kann sie aber auch gut verdienen: durch aktive Beteiligung im Unterricht etwa.
Großrückerswalde hat unter Drogentherapie-Kliniken einen besonderen Status: Sie ist nach Angaben von Geschäftsführer Uwe Wicha eine von drei bundesweit, in der Klienten auch einen Schulabschluss erreichen und eine von zwei, in der sie Bausteine einer Berufsausbildung absolvieren können. Die seit knapp 14 Jahren existierende Einrichtung verfügt über Bauernhof, Schreinerei, Zimmerei, Tischlerei und Töpferei. Klienten können Teile einer Koch-, Tierwirt- oder Holzspielzeugbauerlehre ebenso absolvieren wie die Vorbereitung auf Hauptschulabschluss, Mittlere Reife oder Abitur. Passt die Zeit - die Therapie dauert in der Regel 24 Wochen -, wird an Schulen der Region die Prüfung abgenommen.
Grundlage für das Klinik-Konzept sind laut Wicha auch Beobachtungen von Drogenberatern, wie sich Betroffene motivieren lassen. „Gerade wenn man noch nicht weiß, wie man abstinent leben soll, hilft es, ein weiteres Ziel zu haben.“ Abstinenz allein sei für viele Abhängige schwer vorstellbar, „sie haben sich selbst ja nie als nüchternen Erwachsenen kennengelernt.“
Frühe Karrieren
In Großrückerswalde liegt das Durchschnittsalter bei 22, 23 Jahren. Die Betroffenen haben oft schon eine längere Drogenkarriere hinter sich. „Das Einstiegsalter sinkt“, sagt Wicha. Erste Erfahrungen mit legalen Drogen machen seine Klienten mit zwölf, 13 Jahren. Ein, zwei Jahre später folge Cannabis, dann schnell auch härtere Drogen. Vor zehn Jahren habe der Kreislauf noch ein bis zwei Jahre später eingesetzt, so Wicha.
Rainer war 13, als er das erste Mal mit illegalen Drogen in Berührung kam. Bei einem Bekannten probierte er aus Neugier Speed. Das mache ihn wach und aktiver, ist ihm gesagt worden. Es dauerte nicht lange, bis er die Droge täglich nahm, mit 15 kam Cannabis dazu, später auch Ecstasy und LSD. Finanziert, sagt der Jugendliche, habe er das mit dem Kindergeld, später mit seinem Azubi-Gehalt und kleinen Jobs nebenbei. Wenn es mal eng wurde, halfen Freunde.
Eine Weile schien für ihn alles gut zu gehen. Rainer ist überzeugt, dass weder Eltern noch Lehrer anfangs etwas mitbekamen. „Ich habe sogar den Hauptschulabschluss geschafft.“ Doch irgendwann ging es bergab. Die erste Lehre hat er abgebrochen, aus der zweiten flog er nach fünf Monaten raus, als die Leistungen in der Berufsschule zu schlecht wurden. „Ich habe gelernt“, sagt Rainer. Es blieb aber wenig hängen von dem, was er sich im Drogenrausch einhämmerte. Das Ende vom Lied: Mit 17 flog er zu Hause raus. „Da habe ich erstmal darüber nachgedacht, was ich überhaupt mache. Ich hatte alles verloren.“
Mittlerweile nahm Rainer sogar die Teufelsdroge, die seit einigen Jahren den deutschen Markt überschwemmt: Crystal, ein Methamphetamin, das zu extrem schneller Abhängigkeit, körperlichem und geistigem Verfall führt. Rainer hatte Glück im Unglück: „Ich habe es nur einmal genommen, danach taten mir tagelang die Knochen weh.“ Damit ist er die Ausnahme. Crystal, sagt Klinikchef Wicha, ist inzwischen zu mehr als 90 Prozent die Hauptdroge derer, die in die „Alte Flugschule“ kommen.
Zusammengebraut vor allem in tschechischen Hinterhöfen, hat sie anfangs Großstädte in Sachsen und Bayern erreicht, zieht aber längst weiter. In Sachsen-Anhalt beobachtet die Polizei seit einigen Jahren einen rasanten Anstieg. Allein von 2011 zu 2012 hatte sich die Zahl der Crystalfälle fast verdreifacht - auf 919. Zahlen für 2013 liegen noch nicht vor, die sichergestellte Menge der Designerdroge dürfte sich aber erneut erhöht haben. Bei einem Fall im Oktober waren es zwei Kilogramm - das sind 20000 Konsumeinheiten und rund zwei Drittel der gesamten Vorjahresmenge.
Nach Großrückerswalde kommen Abhängige aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Manche haben erst eine kurze Crystal-Karriere hinter sich. Anderen sind die Folgen des Konsums schon deutlich anzumerken. Sie haben extrem schlechte Zähne, Erinnerungslücken, Mängel im strukturierten Denken, sagt Wicha. Ein Betroffener aus dem Raum Halle berichtete von Verfolgungswahn, Depressionen, Suizidgedanken.
„Crystal passt zu dem, was junge Leute für Spaß halten“, so der Klinikchef: Partys, die donnerstags starten, sonntags am besten noch nicht enden. Das befriedige die Droge anfangs, sie unterdrückt Müdigkeit. „Irgendwann schwappt sie dann in den Alltag über, weil Betroffene sie brauchen, um den noch bewältigen zu können.“ Das subjektive Gefühl der Leistungsstärke erweise sich bald als Illusion. Viele Klienten haben keinen Schul- oder Berufsabschluss.
Gute Chancen danach
60 Plätze bietet die Alte Flugschule, 2008 kam zum ursprünglichen Gelände ein altes Rittergut mitten im 2500-Seelen-Ort dazu, weil der Bedarf das Angebot überstieg. Die Aussichten für Betroffene sind so schlecht nicht: Die Abbrecherquote sei im Vergleich zu Therapien ohne Ausbildung geringer und viele Arbeitgeber würden Absolventen durchaus eine Chance für eine anschließende normale Lehre geben, so der 52-Jährige. Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt sei gut für „belastete Lebensläufe“. Ehemalige Klienten sind heute Schauspieler, Bankkaufmann, Elektrotechniker.
Im Jahr 1893 gelang es dem japanischen Chemiker Nagayoshi Nagai, die Droge Methamphetamin zu synthetisieren, die heute unter der Bezeichnung „Crystal“ als gefährlichste Modedroge gilt. Die Berliner Temmler-Werke entwickelten daraus 1934 eine Droge, die das Schlafbedürfnis senkte und die Leistungsfähigkeit steigerte. Als „Pervitin“ kam das Rauschgift 1938 auf den Markt - gerade rechtzeitig, um Hitlers Blitzkriege zu befeuern.
Während der Feldzüge gegen Frankreich rückten ganze Wehrmachtseinheiten zugedröhnt mit Crystal aus, das unter Spitznamen wie „Panzerschokolade“ verabreicht wurde. Crystal ist eine Kriegsdroge: Das Mittel unterdrückt Müdigkeit, Hungergefühl und Schmerz, es verleiht Selbstvertrauen, der Nutzer fühlt sich stark und tatkräftig.
Selbst in der Nazi-Diktatur aber beunruhigten die Nebenwirkungen wenig später erste Mediziner. Berichte über Persönlichkeitsveränderungen, Psychosen und Paranoia, Halluzinationen und Depressionen mehrten sich. Ab 1. Juli 1941 fiel Pervitin unter das Opiumgesetz, so dass der freie Verkauf verboten war. Dennoch orderte die Wehrmacht zehn Millionen Tabletten gemäß ihrer „Richtlinien zur Bekämpfung von Ermüdung“: „Einmal zwei Tabletten beseitigen das Schlafbedürfnis für drei bis acht Stunden, zweimal zwei Tabletten gewöhnlich für 24 Stunden“, heißt es da. Auch Hitler ließ sich mit seiner „Vitaminspritze“ täglich Crystal Meth verabreichen, wahrscheinlich ohne es zu wissen.
Methamphetamin kann auf jede nur erdenkliche Art eingenommen werden. Egal, ob durch die Nase inhaliert, geraucht, gegessen oder gespritzt - die Droge weckt stets das starke Verlangen, mehr davon zu nehmen. Zudem erzeugt die Droge ein Gefühl von Glücklichsein und Wohlergehen, kombiniert mit Zuversicht, Hyperaktivität und Energie. Dabei zerstört die chemische Substanz den Körper systematisch. Die Wirkungen reichen vom Gedächtnisverlust über Aggressivität bis hin zu Herz- und Hirnschäden. Die schnell eintretende körperliche Abhängigkeit wird nur durch weiteren Konsum der Droge gelindert.
Rainer arbeitet in der Klinik an seinem qualifizierten Hauptschulabschluss. Er will im Erzgebirge bleiben, nicht zurück in sein altes Umfeld, will nach der Therapie eine Lehre als Maler und Lackierer beginnen. Malen hat geholfen, als er den Druck der Sucht spürte, erzählt er. Der Jugendliche klingt optimistisch. Die Zahl der Batzen, die er im Unterricht erhält, steigt. Man braucht sie auch, um nächsthöhere Therapiestufen mit mehr Freiheiten zu erreichen. Am schönsten aber war wohl der Besuch seiner Oma. „Sie hat sich gefreut, dass ich nicht nur leere Versprechungen mache. Ich habe sie ziemlich stolz gemacht - ein schönes Gefühl!“
