1. MZ.de
  2. >
  3. Mitteldeutschland
  4. >
  5. Prager Botschaft vor 35 Jahren: Genscher auf dem Balkon - Der letzte Schrei vor der Freiheit

Prager Botschaft vor 35 Jahren Genscher auf dem Balkon - Der letzte Schrei vor der Freiheit

Sie sitzen seit Wochen in der überfüllten bundesdeutschen Botschaft in Prag. Die Lebensbedingungen sind erbärmlich, es gibt weder Schlafplätze noch Essen. Am Abend des 30. September steht plötzlich Hans-Dietrich Genscher auf einem Balkon. Er sagt nur einen halben Satz und ändert das Schicksal Tausender.

Von Steffen Könau 28.09.2024, 09:00
Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft.
Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft. Foto: dpa

Prag/MZ. - Sie hausen im Dreck, schlafen auf dünnen Matratzen in behelfsmäßigen Zelten. Es gibt drei Toiletten für 4.000 Menschen. Und jeden Tag kommen Hunderte mehr an. Die Prager Botschaft der Bundesrepublik ist in den Spätsommertagen des Jahres 1989 ein einziges Katastrophengebiet. Im Gebäude und im Garten drängen sich die Menschenmassen. Niemand weiß, wie es weitergeht, manche sitzen erst seit Tagen hier fest, andere schon seit Wochen. Und alle sind entschlossen, nicht zu gehen, ehe ihnen nicht eine Ausreise in die Bundesrepublik zugesichert wird.

Strom von Uraubern Richtung Süden

Die Palais Lobkowitz in der Vlašská 19 auf der Prager Kleinseite, seit 1973 Sitz der BRD-Botschaft, ist der Ort, auf den sich im September vor 35 Jahren die Blicke der Welt richten. Nachdem Ungarn seine Grenze geöffnet hatte, zieht ein Strom von „DDR-Urlaubern“ nach Süden. Ziel Bundesrepublik. Daraufhin genehmigen die DDR-Behörden keine sogenannten „Anträge aus Ausreise aus der DDR“ nach Ungarn mehr. Nun verlagert sich der Flüchtlingsstrom in die CSSR, das letzte Bruderland, zu dem die DDR noch eine offene Grenze hat, die ihre Bürger mit ihrem Personalausweis überschreiten dürfen. Dort wiederum weigern sich Anfang August die ersten Ostdeutschen, die ehemalige Stadtresidenz des böhmischen Adelsgeschlechtes der Lobkowicz’ wieder zu verlassen.

Geheimer Weg aus der DDR

Sie setzen darauf, dass ein weder in der DDR noch in der Bundesrepublik übermäßig bekannter, aber gut eingeübter Mechanismus greift. Mitte der 80er Jahre, als erstmals Botschaftsflüchtlinge in einer Vertretung der Bundesrepublik auftauchten, darunter die Nichte von DDR-Ministerpräsident Willy Stoph, ist ein Verfahren vereinbart worden, mit dem beide Seiten leben können, weil Aufsehen vermieden wird. Die Besetzer dürfen in den Westen, müssen dazu aber vorher noch einmal in die DDR zurück und Ausreiseanträge stellen. Die, das hat die SED-Führung den westlichen Unterhändlern zugesichert und daran hält sie sich meist, schnell bearbeitet werden.

Im Garten der Prager Botschaft warteten Tausende auf ihre Ausreise.
Im Garten der Prager Botschaft warteten Tausende auf ihre Ausreise.
Foto: DPA

Ende August 1989 aber ist alles anders. Die Frauen, Kinder und Männer in der Botschaft, anfangs ein Dutzend, später Hunderte, schließlich Tausende, verweigern den üblichen Umweg über die DDR. Ihnen ist die erwartete Bearbeitungszeit ihrer Anträge von bis zu sechs Monaten zu lang. Viele haben Angst, entgegen aller Zusicherungen verfolgt, drangsaliert oder sogar eingesperrt zu werden.

Doch die DDR-Führung, der die Lage zu entgleiten droht, fürchtet, ihr Gesicht zu verlieren, wenn sie in diesem Punkt nachgibt. Mit jedem Tag mehr werden die Zustände in der Botschaft bedrohlicher und die anklagenden abendlichen Fernsehbilder in der „Tagesschau“ erreichen noch mehr DDR-Bürger. Tausende sehen plötzlich eine reelle Chance, der ungeliebten SED-Herrschaft zu entkommen. Zugleich fragen sich selbst die treuesten der treuen Genossen, warum ihre Führung das alles zulässt. Und die vielen, die nicht gehen wollen, aber auch nicht, dass alles so bleibt, frohlocken über die Ratlosigkeit der Politbüro-Götter.

Was hinter den Kulissen abläuft, ahnt niemand. Der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher ist pausenlos unterwegs, um eine Lösung für die Menschen in der Botschaft in Prag, aber auch in Budapest und Warschau zu finden. Zwei Wochen zuvor erst hat der gebürtige Hallenser einen Herzinfarkt erlitten. Genscher ist 62 Jahre als und noch wacklig auf den Beinen. Bei seiner endlosen Tour auf der Suche nach einem Kompromiss wird er in jenen kritischen Septembertagen stets von zwei Ärzten begleitet.

„Ich helfe Ihnen“

In New York spricht er am Rande der UN-Sitzung mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse. Dann trifft er seinen DDR-Kollegen Oskar Fischer. Danach den tschechischen Außenminister, US-Außenminister James Baker. Dann wieder Schewardnadse. Der fragt: „Sind Kinder dabei?“ Genscher sagt: „Viele“. Der spätere georgische Präsident entgegnet: „Ich helfe Ihnen“.

Der Druck auf die DDR-Führung steigt. Es ist Genscher, der Fischer schließlich den Vorschlag macht, entweder DDR_Beamte in die Prager Botschaft zu schicken, die dort Ausreisegenehmigungen ausstellen. Oder aber Züge über DDR-Gebiet aus der CSSR in den Westen fahren zu lassen. So soll der Schein gewahrt werden, dass die DDR souverän entscheidet.

Oskar Fischer muss erst nach Berlin. Der Mann, der seit 1975 DDR-Außenminister ist, traut sich nicht, die Frage telefonisch mit Honecker zu besprechen. „Er hatte Sorge, dass irgendjemand gegensteuern könnte“, beschreibt Genscher. Am Morgen des 30. September kommt schließlich das Einverständnis aus Ost-Berlin.

Im Triumphzug durch die DDR

Die SED-Führung bevorzugt die Zugvariante, zum Erstaunen von Hans-Dietrich Genscher, der im Gegensatz zu den Genossen ahnt, was geschehen wird. Statt leise einfach zu verschwinden, werden die Botschaftsbesetzer wie im Triumph durch die DDR gefahren.

„In dieser Stunde war mir bewusst: Jetzt würden nicht nur einige Tausend Deutsche aus der DDR unsere Botschaft in Richtung Bundesrepublik verlassen können, es kündigt sich Historisches an: Die DDR ist am Ende“, heißt es in seinen Lebenserinnerungen.

Genschers Plan, gemeinsam mit seinem Ministerkollegen Rudolf Seiters in den Zügen mitzureisen, um den Flüchtlingen zu zeigen, dass ihnen nichts geschehen wird, vermag die DDR noch zu vereiteln. Dann tritt Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon der Botschaft. Er sagt seinen Satz, der im Jubelsturm untergeht. (hier zum nachhören)

Der Skepsis der Tausende, die fürchten, auf dem Gebiet der DDR doch noch verhaftet zu werden, tritt Genscher mit seinem Wort entgegen. „Ich weiß, was Sie empfinden“, sagt er, „sie sind alle in einem Alter, in dem ich war, als ich die DDR verlassen habe.“ Er aber verbürge sich dafür, dass die Züge ohne Halt durchfahren. Erleichterung macht sich breit. Genscher fragt noch in die Runde: „Sind denn Hallenser hier?“ Zahlreiche Rufe antworten ihm.

Noch am Abend geht der erste Zug, es folgen sieben weitere bis zum nächsten Morgen. „Was sich hier vollzieht, ist der Zusammenbruch der DDR von innen und von unten“, fasst Hans-Dietrich Genscher zusammen, was er als „politischen Urstrom“ empfindet. „Ein unvergesslicher Moment, für mich ebenso wie die in der Botschaft versammelten Menschen.“

Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Siedler,1088 S.