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«Freiheit» 1989 «Freiheit» 1989: Die Mauer fiel nur einspaltig

Von HANS-ULRICH KÖHLER 06.11.2009, 16:42

Halle/MZ. - Zum ersten Mal mussten wir nicht seitenlang die Statistiken über den wirtschaftlichen Aufschwung der DDR abdrucken. Also frage ich unsere Leser im Kommentar: "Fehlt Ihnen heute etwas?" Der Leser dürfte zu diesem Zeitpunkt längst seine Antworten auf solche Fragen gefunden haben. Ich aber war stolz darauf, sie öffentlich stellen zu dürfen und bin mir sicher: "Ohne Arbeit keine Wende." Ich forderte im Kommentar mehr "Ehrlichkeit und Präzision in Mark und Prozent", weil das nötig sei für "gesellschaftliche Erneuerung", und das meinte ich auch so. Denn am Tag des Mauerfalls war für mich und andere immer noch nicht restlos klar, ob es gelingen kann, aus diesem verkorksten Sozialismus etwas zu machen.

Dort unten auf der Titelseite, wo mein Kommentar endet, finde ich am nächsten Tag ganz unscheinbar die eigentliche Meldung des Tages: "Regierungssprecher zu Reiseregelungen" - die Mauer fiel in der "Freiheit" einspaltig. Keine Spur vom Hauch der Geschichte, ein Verwaltungsakt wird vermeldet.

500 Kilometer weiter im Westen stehen am Abend des 9. November Redakteure des "Kölner Stadt-Anzeigers" beieinander. Sie brauchen wohl nicht lange, um die Reiseregelungs-Nachricht als das zu erkennen, was sie ist: eine Sensation. Die sechsspaltige Schlagzeile dürfte ihnen leicht von der Hand gegangen sein: "DDR öffnet ihre Grenzen". 15 Monate später arbeiten "Freiheit"-Redakteure im selben Verlagshaus (M. DuMont Schauberg), in dem auch der "Kölner Stadt-Anzeiger" erscheint - von dem wir hier in Halle bis dato überhaupt nicht wussten, dass es ihn gibt auf der Welt.

Als ich um 19.30 Uhr die Aktuelle Kamera einschalte, wird die Meldung mit der Reiseregelung verlesen und es dämmert - man darf in den Westen. Die Tagesschau führt mich um 20.00 Uhr auf den Pfad der Geschichte: Die Mauer ist gefallen!

Dieser 9. November ist ein Donnerstag. In Berlin tagt das Zentralkomittee der SED. Gegen 15.30 Uhr ist die Kaffeepause zu Ende und die nächsten Redner sind dran. Kurz nach 16 Uhr meldet sich der neue SED-Generalsekretär Egon Krenz außerplanmäßig zu Wort. Er bittet die ZK-Mitglieder, von der Tagesordnung abweichen zu dürfen, weil es ein Problem gebe, dass "uns alle sehr belastet", die Ausreise aus der DDR. Er verweist darauf, dass die tschechischen und ungarischen Genossen endlich klare Aussagen erwarteten.

Deshalb müsse man hier dringend über den Entwurf der neuen Reiseregelung sprechen, die von Regierungschef Willi Stoph vorgelegt worden sei. Die wäre zwar im Politbüro schon durch, wird Krenz im Tagungsprotokoll zitiert, aber er wolle dennoch das ZK "in dieser Sache konsultieren", heißt es in den Unterlagen des Bundesarchivs in Berlin.

Krenz verliest den Entwurf der Mitteilung zur Reisereglung, wie sie später unters Volk gebracht werden soll. Als er fertig ist, meldet sich Kulturminister Hoffmann zu Wort und moniert, dass von "zeitweiliger" Ausreise gesprochen wird. Verunsichere, so Hoffmann laut Protokoll, das nicht die Menschen, weil sie befürchten müssten, es sei bald wieder vorbei mit der Reisefreiheit?

Hoffmann schlägt vor, die Ausreise "sofort und unverzüglich" zu erlauben. Darüber wird debattiert, die Worte werden aber nicht aufgenommen. Günter Schabowski muss diese Worte gehört haben und hat sie wohl irgendwie im Unterbewusstsein gespeichert. Denn als er um 18.57 Uhr auf der Pressekonferenz von einem Jounalisten danach gefragt wird, ab wann die Reiseregelung gelte, zögert er nicht lange: "Sofort, unverzüglich, soweit ich weiß." Dabei stand klar drin, wie es zu laufen hat: Ab 10. November soll die Regelung in Kraft treten, geordnet, beherrschbar. Dieser Termin steht auch in dem ZK-Fernschreiben, das gegen 17 Uhr an alle SED-Kreisleitung rausgeht, zwei Stunden bevor Schabowski mit seinem Irrtum die Mauer vorfristig öffnet.

Gegen Mittag des 9. November versammeln sich die Redakteure zur täglichen "Freiheit"-Mittagskonferenz. Alles ist noch redaktionelle Routine. Als wir die Themen für die Seite 1 des nächsten Tages besprechen, meinen Kommentar einplanen, ist von einer Reiseregelungs-Nachricht noch keine Rede. Die Schlagzeile steht ohnehin fest: Die ZK-Tagung hatte die 4. Parteikonferenz einberufen. Sie sollte vom 15. bis 17. Dezember 1989 erörtern, welche Wege zur Reformierung des Sozialismus und der SED möglich wären. Was heute nur Insidern auffällt: Die Überschrift dafür war gerade mal dreispaltig. Früher wäre sie wohl quer über die ganze Seite gelaufen.

Eine zweite Meldung zum Thema ZK-Tagung wurde darunter platziert, ein Zweispalter. Kurz und knapp steht da drin, was Günter Schabowski am Abend auf seiner Pressekonferenz ausländischen Journalisten antwortete - von neuer Reiseregelung kein Wort.

Eine ADN-Meldung zu diesem Thema ist zu dieser Zeit noch nicht bei uns in der Redaktion der "Freiheit" eingelaufen oder avisiert. Denn die übliche Order an die SED-Zeitungen, ausgegeben von der Abteilung Agitation des ZK und deren Chef Heinz Geggel, bleibt aus. Er ist am 17. Oktober bereits von seinen Aufgaben entbunden worden. So existiert die zentrale Anweisungsstelle für alle DDR-Medien in dieser Form nicht mehr. Um 19.08 Uhr meldet ADN dann in einer Eilmeldung die neue Reiseregelung.

Als diese Nachricht in der halleschen Redaktion einläuft, wird sie ganz unten rechts platziert, neben dem Wetter, eine ADN-Meldung im üblichen Verlautbarungsdeutsch. "Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen," ohne dass dafür irgendwelche Voraussetzungen vorliegen müssen.

Im ersten Absatz der Meldung steht etwas von "mit sofortiger Wirkung" und auch "unverzüglich" taucht auf in der "Freiheit"-Ausgabe vom 10. November. Denn so ist es ja eigentlich gedacht: An diesem Freitag sollte das neue Reisegesetz förmlich in Kraft treten. Tausende Menschen stürmen nun die Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter wegen des Visums: Zum Wochenende in den Westen - wow! Auf den Lokalseiten der "Freiheit" wird tags darauf gemeldet, dass man das ganze Wochenende über sein Visum abholen kann. Vier Millionen DDR-Bürger werden in den nächsten Tagen auf Westbesuch fahren.

Auch die Redaktion will in den Westen. Ich bin der erste, der rüber geschickt wird, um zu gucken, wie es da so ist. Nur mit dem Visum, das dauert, trotz Beschleunigungs-Bemühungen auf hoher Ebene. So wird es Sonntag, bis ich in den Westen aufbrechen kann, gut ausgerüstet mit Wünschen, was ich den Leuten unterwegs ent-

locken soll: Wir fahren in den Westen, kommen aber gleich zurück, weil es jede Menge zu tun gibt in unserer DDR.

Aber vorab ist eine wichtige Frage zu klären: Kann man mit einem Auto der Partei in den Westen? Ich bin, wie es heißt, "Selbstfahrer", brauchte also keinen der üblichen Chauffeure aus dem Fahrdienst, könnte selbst rüber fahren. Doch das Nein steht schnell fest: Fahr mal mit deinem Privat-Auto. Das war ein betagter, weißer Wartburg, mit faustgroßen Rost-Löchern im linken Kotflügel.

Sonntag früh halb vier geht es los zur ersten "Freiheit"-Westreportage - in der längsten Autoschlange, die die Welt wohl je gesehen hatte: von Halle bis Westberlin, aber es rollt. Die Staus am Grenzübergang kommen mir gelegen, ich frage Hallenser. Kurz mal rüber und dann zurück, höre ich. Zurück, immer wieder zurück - ganz wie gewünscht. Eine Lehrerin aus Halle-Neustadt spricht mir ins Aufnahmegerät, dass sie zum "Café Kranzler" unterwegs sei - "und abends zurück" wolle. Am Montag werde sie in ihrer Klasse "alles politisch-ideologisch" auswerten.

Nach drei Stunden sind wir dann drüben und ich spreche diesen Satz in mein Aufnahmegerät: "Sonntag, 12. November 1989, 6.37 Uhr, wir sind zum ersten Mal im Westen." Wo nun ist das "Café Kranzler"? Zum Glück hatte ich noch einen alten Atlas meines Vaters rausgekramt, gedruckt 1952, da war der Westberliner Stadtplan drin. Aber auch wer keinen besaß, wurde in der Stadt versorgt. Der "Tagesspiegel" hatte Stadtpläne gedruckt für die von "drüben". Ossi und Wessi gab es da noch nicht.

Die Wagenflut aber schwemmt mich gegen halb acht zu einer zugigen Brache kurz vor der Mauer. Drüben sehe ich die Leipziger Straße. Der Blick in Vaters Atlas hilft: Diese Einöde dürfte der Potsdamer Platz sein. Vor einem einsamen Haus parke ich, "Weinhaus Huth" steht an der verblichenen Fassade. Das ist heute umzingelt von der hypermodernen Architektur des Potsdamer Platzes.

Dort ist der Zeitungsgott mit mir. Ich komme - meine Frau und beide Töchter im Schlepptau - genau an jener Stelle an, wo Kräne gleich die ersten Mauersegmente herausziehen werden. Es wimmelt von Uniformierten aus Ost und West, Zehntausende Menschen warten. Eine riesige, mehrstöckige Tribüne kann die Journalisten aus aller Welt kaum fassen, als der Bürgermeister West, Walter Momper, und der Amtskollege Ost, Ehrhard Krack, durch die erste Mauerlücke treten und sich die Hände reichen.

Meine beiden Töchter (zehn und sechs) verstehen nicht, was Papa da von einem historischen Augenblick erzählt. Sie frieren erbärmlich und wollen nur zurück zum Auto, das inzwischen von einem Dutzend Mannschaftswagen der Westberliner Polizei zugeparkt ist. Auf der Kühlerhaube des Wartburgs liegt ein riesiger Strauß weißer Chrysanthemen.

Gegen zwölf habe ich alles im Block für den ersten West-Text der "Freiheit". "Unsere Menschen" staunen dem Reporter was vor: Das ist ja hier wie im Intershop, sagt mir einer. Nur meine Kindern nörgeln: Überraschungseier, Nutella! Das geht nur mit Westgeld. Hin also zum Schalter mit dem Begrüßungsgeld in der Lützowstraße. Für einen Moment meldet sich mein schlechtes Gewissen: Darfst du das auf Dienstreise für das Bezirksorgan der SED? Meine Kindern machen mir die Antwort leicht. Als wir den Aldi verlassen, ist der Einkaufswagen für 25 Mark randvoll - unglaublich.

Dann aber zurück in die Redaktion, den Text flink in meine 40 Jahre alte Ideal-Schreibmaschine klimpern. "Zum Kaffee von Halle auf den Ku Damm" steht am Montag, 13. November, dann auf Seite 1 über meinem Artikel. Er endet mit einer Episode aus dem Rückreise-Stau. Mehrere Typen umlagern uns an einer Ampel. Sie reichen uns Fragebögen für einen Persönlichkeitstest rein, 200 Fragen. Frage 52 lautet: "Scheint Ihnen das Leben lebenswert?" - "Dieses Reisewochenende", schreibe ich als letzten Satz in meinen Text, "gibt uns darauf neue Antworten." Die suchen Tausende Leser aber immer noch.

Die "Freiheit" öffnet ihre Seiten - gedrängt von der Öffentlichkeit und einer Parteispitze im Umbruch - immer stärker dem Gespräch über die zwingenden Fragen der Zeit. Langsam tauchen auf den Zeitungsseiten Fragen zur Überlebensfähigkeit des Sozialismus auf. Anfang Dezember setzt die neue Bezirksführung der PDS den alten "Freiheit"-Chefredakteur ab und einen neuen aus den Reihen der Redaktion ein. Da beginnen die ersten Redakteure, ihre Partei-Bücher abzugeben. Viel Mut habe ich dafür freilich schon nicht mehr gebraucht.

Der publizistische Wandel wird im Februar 1990 in die entscheidenden Bahnen gelenkt. Die Leser erfahren am 27., dass Alfred Neven DuMont - noch heute Herausgeber der Mitteldeutschen Zeitung - kund getan hat, dass er Interesse habe, der "Freiheit" beim Weg zu einer modernen Zeitung mit moderner Druckerei zur Seite zu stehen. Ich erlebe ein völlig neues Kapitel deutscher Zeitungsgeschichte: Ein Westverlag lässt sich darauf ein, eine SED-Zeitung zu einer unabhängigen, überparteilichen Zeitung zu entwickeln, die ihre Wurzeln in der Region hat und in der viele Mitarbeiter nach sorgfältiger Prüfung eine Chance zum journalistischen Neubeginn erhalten.

Die allgemeine Aufbruchsstimmung spiegelt sich auch im Wortlaut dieser Meldung. "Die politische Grundrichtung der journalistischen Arbeit der ,Freiheit' wird durch das von der Reaktionsvollversammlung zu verabschiedende Redaktionsstatut bestimmt." Später ist zu lernen, dass sich ein Millionen-Unternehmen nicht mit basisdemokratischen Mechanismen erfolgreich führen lässt.

Im Zeitungskopf der "Freiheit" wird ab Dezember ablesbar, wie wir uns unter dem Druck der öffentlichen Meinung und neuer Einsichten suchend und unsicher nach vorn tasten. Es beginnt der Weg von der "Sozialistischen Tageszeitung für den Bezirk Halle" (23. 12. 1989) über die "Unabhängige Tageszeitung für Sachsen-Anhalt" bis zur "Mitteldeutschen Zeitung" (17. 3. 1990 ). Die ist dann "unabhängig, überparteilich". Beide Worte stehen noch heute im Zeitungskopf.