Flucht mit FDJ-Ausweis Flucht mit FDJ-Ausweis: Darum feiert Ulrich Aust aus Schkopau zwei Mal Geburtstag

Prag - Der Moment im Zug, als die Grenzer mit versteinerten Gesichtern durch die Waggons liefen und die Ausweise kontrollierten, hat sich Ulrich Aust besonders eingebrannt. Er hätte das Ende seines Traums sein können, ja, müssen, denkt er der Schkopauer heute noch - 30 Jahre nach dem Tag, den er seitdem Jahr für Jahr als seinen zweiten Geburtstag feiert. „Ich hatte einen so blöden Fehler gemacht“, beschreibt er. „Ich frage mich heute noch, warum der nicht bestraft wurde.“
Glück? Mitleid? Kapitulation? Der DDR-Grenzsoldat jedenfalls, der damals an der Grenze zur CSSR Austs Ausweis kontrolliert, betrachtet den Zettel prüfend, auf dem der 21-Jährige zwei Telefonnummern von Ansprechpartnern in der Bundesrepublik notiert hat, von denen er nach seiner geplanten Flucht in den Westen Hilfe erhofft. Dann klappt der Mann das kleine blaue Ausweisbüchlein zu und sagt „Angenehme Weiterreise“.
Ulrich Aust atmete auf. „Ich hatte doch mitbekommen, wie sie aus den Nachbarabteilen Leute raussortiert haben, die den Zug verlassen mussten.“ Er darf weiterfahren, auf einer Reise ins Ungewisse, die er am Morgen „wie ein Verbrecher begonnen“ hatte, wie er sagt.
Damit seine Freundin nichts mitbekommt, was sie vielleicht hätte verraten können, geht der Konstrukteur aus den Buna-Werken vermeintlich ganz normal zur Arbeit. „Runter in den Keller, Rad raus, eine Runde ums Viertel, falls sie hinterher guckt.“ Erst als seine Freundin die Wohnung verlassen hat, schleicht er sich zurück, packt eine Tasche mit Klamotten für fünf Tage, Papieren, Zeugnissen und seinem FDJ-Ausweis und bricht auf in ein neues Leben.
Nicht ganz freiwillig allerdings. Ein paar Tage zuvor hatten sich zwei Stasi-Männer unangekündigt in sein Büro gedrängt, um ihn einzuschüchtern. „Ich hatte vorher ein bisschen die große Klappe gehabt und war einfach zum FDJ-Reisebüro Jugendtourist gegangen, um nach einer Ferienreise nach Westdeutschland oder Griechenland zu fragen.“
Ein Auftritt, den Aust gleich anschließend bereut. „Aber man hat doch jeden Abend Tagesschau geguckt und gesehen, 500 hauen ab, Tausend hauen ab“, sagt er. „Man bekam ja Panik, dass man irgendwann als letzter das Licht ausmacht.“
Bewaffneter Soldat stoppt Taxi in Prag: „Ost oder West?“
Der Stasi-Auftritt in seinem Büro bringt das Fass zum Überlaufen. „Es war nicht so, dass ich überlegt und dann beschlossen habe, dass ich abhaue“, erinnert er sich. Vielmehr habe er sich plötzlich und ohne großes Nachdenken selbst bei dem Gedanken ertappt, „dass ich mich schon längst dazu entschieden hatte.“
Aust ist kein Oppositioneller, kein Staatsfeind oder Regimekritiker, sondern das, was er selbst einen „ganz normalen DDR-Bürger“ nennt. Vieles gefällt ihm nicht im Arbeiter- und Bauernstaat, die Enge, die Leere, die Furcht, irgendwo etwas Falsches zu sagen etwa. Aber auch die Zwei-Klassen-Gesellschaft, die in der DDR herrscht. „Oder was ist das, wenn ein Funktionärstöchterchen in einer FDJ-Veranstaltung einen Lichtbildervortrag hält, wie schön es in Griechenland ist?“
In Prag nehmen Aust und ein anderer junger Mann, mit dem er sich nach langem misstrauischen Beschnuppern im Zug angefreundet hat, ein Taxi. „Wir wussten ja nicht mal, in welcher Richtung die deutsche Botschaft lag.“ Plötzlich aber erscheint ein Soldat mit umgehängtem Gewehr, der Taxifahrer hält und der Bewaffnete fragt: „Deutsch?“ Ulrich Aust rutscht das Herz in die Hose, als auf sein Nicken hin auch noch „Ost oder West“ gefragt wird. „Ost, habe ich gesagt und gedacht, jetzt gehen wir ab, jetzt bringen sie uns doch noch in den Knast, ein paar Meter vor dem Ziel“, erinnert sich der Mann aus dem Saalekreis.
Am Zaun der Botschaft: „Ruhig, ruhig, ihr habt es gleich geschafft“
Zum Glück ein Irrtum. Die tschechoslowakischen Behörden haben nur ein Zufahrtsverbot für die Straße zur Botschaft verhängt. Kaum sind Aust und sein Begleiter aus dem Taxi gestiegen, dreht der Soldat sich um und geht. „Wir haben die Beine in die Hand genommen.“
Immer den Leuten nach, die zumeist schweigend, Koffer und Taschen in der Hand, durch die schmalen Straßen auf der Prager Kleinseite gehen. „Dann tauchte endlich der Zaun auf, den wir aus dem Fernsehen kannten, und es gab kein Halten mehr.“ Rucksäcke fliegen über die Absperrung, von drinnen werden Knie als Stufen für die Neuankömmlinge durchgesteckt. „Alle sagten: ‘Ruhig, ruhig, ihr habt es gleich geschafft’.“ Dann fällt Ulrich Aust auf den längst plattgetretenen Rasen des Botschaftsgartens. „Und ich wusste, hier gehe ich nur noch als Bundesbürger raus.“
4.000 Menschen, Kinder, Frauen, Männer, Alte, harren zu dieser Zeit schon auf dem Gelände aus. „Es gab keine Schlafplätze mehr, vier Toiletten für alle zusammen, und man verbrachte die Tage damit, abwechselnd entweder nach Essen anzustehen oder am Klo.“ Aber Ulrich Aust ist glücklich, fast schon beschwingt. „Wenn hier so viele sind, dachte ich mir, kann das nicht ganz falsch sein, was du tust.“ Überdies sei ihm klar gewesen, dass „wir alle unsere eigenen Geiseln waren - je schlechter die humanitäre Situation, desto größer der Druck auf die DDR-Führung.“
Am 30. September 1989, Ulrich Aust sitzt den vierten Tag in der Botschaft in Prag fest, wird dieser Druck endlich zu groß. Um 18.59 Uhr tritt der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon des Palais Lobkowicz und sagt die berühmten 13 Worte: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ...“ Der Rest des Satzes geht in einem Jubelsturm unter, der das Ende der DDR vorwegnimmt. (mz)
