Erdbeben in Nepal Erdbeben in Nepal: Paar aus Lieskau ist der Hölle entkommen

Lieskau - Zwei Tage nach ihrer Rückkehr sind sie in Halle in ein Restaurant essen gegangen. Für Peter und Beatrix Reichert aus Lieskau (Saalekreis) soll es eine Ablenkung von dem gerade überstandenen Horror sein. Bis draußen vor dem Lokal ein Lkw vorbei donnert, die Erde zittern lässt. Auch wenn die Ausmaße rational nicht vergleichbar sind: „Es war das gleiche Gefühl“, sagt Beatrix Reichert.
Das gleiche Gefühl wie in Nepal, wo das Paar in einer der am schlimmsten betroffenen Regionen nur mit Glück und beeindruckender Hilfe von Einheimischen das Erdbeben Ende April überlebt hat. Vier Tage war es in den Bergen von der Außenwelt abgeschnitten.
Nach Trekking-Touren in Marokko und Bolivien sollte es eigentlich der Traumurlaub schlechthin werden. „Ein Jahr haben wir geplant“, sagt Peter Reichert. Das Paar hat sich fit gehalten, Zeit in die Wahl einer Agentur investiert, die die vier Wochen Nepal zum einmaligen Erlebnis werden lassen sollte. „Es war immer unser Traum, diese Eisriesen zu sehen“, sagt Beatrix Reichert - schneebedeckte Berge am Langtang-Tal, einer beliebten Trekkingroute. Zunächst lässt sich der am 9. April gestartete Trip auch gut an.
Reicherts besichtigen Kathmandu, unternehmen erste Trekking-Touren. Sie sehen Affen im Wald, Rhododendren, „einer schöner als der andere“, so Beatrix Reichert. Und sie sind den weißen Riesen immer näher. „Gigantisch.“
Wenn Peter Reichert heute die Stationen der Tour vor dem Beben aufzählt, kommt er an einem Punkt ins Stocken. Es ist im Ort Langtang selbst, wo ihm die Höhenkrankheit plötzlich zu schaffen macht. Zwei Krankenschwestern kümmern sich um ihn - Frauen um die 20, mit denen das Paar später noch plaudert. Der 54-jährige schluckt, ringt nach Worten, presst sie dann förmlich heraus: „Sie sind beide tot.“ Langtang wurde von einer Geröll- und Schneelawine komplett überrollt.
Die Gefahr im Tal
Als das Erdbeben kommt, sind Reicherts schon ein Stück weiter. Sie verzichten wegen der gesundheitlichen Probleme auf einen Bergaufstieg, der ihnen - wie sie später erfahren - beim Beben den sicheren Tod gebracht hätte. Von Kyanjin Gompa aus brechen sie in eine andere Richtung auf, machen gerade am Zelt Pause, als die Erde zu beben beginnt. Beide stürzen. „Man kriegt keine Luft, kann sich nicht bewegen - es ist, als ob der Körper nicht will“, beschreibt Beatrix Reichert.
Das Gefährliche: Mit seinen Guides und Trägern befindet sich das Paar in einem 200 Meter breiten Tal, in der Mitte ein Fluss, rechts und links bis zu 2000 Meter höhere Berge, von denen nun Geröll und Felsbrocken abstürzen. Die Gruppe muss bei Frostgraden durch den oberschenkeltiefen Fluss waten. „Da hatte ich schon ein Blackout“, so Beatrix Reichert. Todesangst hat beide im Griff.
Eine von einem halleschen Verein geförderte Schule im Norden Nepals ist durch das verheerende Erdbeben zerstört worden. Der Verein „Lumsa – eine Schule für Nepal“ hat das Gebäude finanziert und mit Hilfe der Menschen in dem rund 200 Einwohner zählenden Lumsa in mehr als 3.000 Metern Höhe errichtet. Seit gut 15 Jahren engagiert sich der Verein in der schwer zugänglichen Bergregion. Die Schule erhielt einen Schulhof, die Schüler wurden mit Computern ausgestattet. Zudem ist eine Trinkwasserversorgung aufgebaut worden.
Das Erdbeben Ende April und die zahlreichen Nachbeben haben neben der Schule auch zahlreiche weitere Gebäude in dem Ort einstürzen lassen. Todesopfer waren dort nicht zu beklagen. „Das ist für den Moment das wichtigste“, sagte Volker Tiller, Vorsitzender des Lumsa-Vereins in Halle.
Die Einwohner von Lumsa hatten sich nach Angaben von Tiller aus ihren zumeist einstöckigen Häusern rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Der hallesche Verein will nun den Wiederaufbau der Schule und der Infrastruktur organisieren. „Ich sehe das Erdbeben als Herausforderung für zukünftige Projekte und bin optimistisch“, sagte Tiller. An Baumaterial mangelt es nicht, da die Häuser mit Material aus einem nahe gelegenen Steinbruch errichtet wurden.
Engpässe für die Vereinsarbeit in Nepal sieht Volker Tiller an anderer Stelle. Da der Wiederaufbau der zerstörten Häuser Priorität hat, dürfte es in nächster Zeit schwierig werden, genügend Helfer für die Vereinsprojekte zu finden. „Alles, was bisher gebaut worden ist, lässt sich zwar wieder errichten, aber die Hände dafür müssen da sein.“ (shü)
Auf dem fünf Stunden langen Rückmarsch nach Kyanjin Gompa begegnen die Touristen dem Guide einer anderen Gruppe. Aus ihr ist ein Mann von Felsbrocken erschlagen worden, eine Frau hat zwei gebrochene Beine. 24 Stunden darauf ist sie ausgeflogen worden, heißt es später. Reicherts müssen zunächst weiter durch das Höllental. „Die riesigen Risse am Berghang haben uns noch mehr Angst gemacht“, sagt sie.
Es ist früher Abend, als die Gruppe in Kyanjin Gompa ankommt. In dem kleinen Ort ist kein Haus mehr ganz. Und bald wird klar: Weiter wird es von hier aus nicht gehen. Langtang ist durch die Lawine nicht passierbar - über den Ort führt aber der einzige Weg zurück.
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Während sich Einheimische zwischen Felsen ein Notquartier unter einer Plane einrichten, bauen rund 30 Touristen Zelte auf einem Feld am Rande des Ortes auf. Das Warten beginnt und die Hoffnung auf Rettung durch einen Hubschrauber - sie beginnt an jedem Morgen neu, wenn für ein, zwei Stunden die Luft klar ist. Zu allem Unglück ist das Wetter immer schlechter geworden. Ständige Nachbeben, das Grollen in den Bergen und die tiefen Wolken, die die Sicht auf kommendes Unheil verhindern: Es ist eine nervenaufreibende Kombination, die auch Schlaf unmöglich macht.
Bis zu sieben Mal pro Nacht springt das Paar im Zelt auf oder rennt heraus, um reagieren zu können. „Tagsüber ging es, wir haben darauf vertraut, dass die Guides wissen, in welche Richtung wir rennen müssen.“ Sie sind zwar rund um die Uhr da, kümmern sich rührend. „Nachts fühlt man sich aber allein“, sagt Beatrix Richter.
In Deutschland versucht Tochter Ireen, über Auswärtiges Amt und Botschaft eine schnelle Rettung zu veranlassen - ohne Erfolg. Mal kommt die Nachricht, das Wetter sei zu schlecht, mal fehlt eine Genehmigung, mal wird sie an eine Hotline verwiesen, dann wieder fliegt sie aus der Leitung. Am Samstag, Stunden nach dem Beben, hat Ireen Naumann das erste Mal telefonisch Kontakt zu ihren Eltern gehabt. Ihr Vater versucht sie zu beruhigen, doch im Hintergrund hört sie die Mutter weinen.
Bis Reicherts tatsächlich gerettet werden, vergehen vier Tage - inklusive eines Tumults, als es darum geht, ob gesunde Franzosen oder schwer verletzte Einheimische mit einem von Touristen organisierten privaten Hubschrauber ausgeflogen werden. Am Ende sind es die Verletzten.
„Ab da hat sich aber kein Pilot mehr hochgetraut“, sagt Reichert. Am Mittwoch fliegt schließlich das Militär die übrigen Touristen und Einheimischen aus - über eine Zwischenstation geht es nach Dhunche, von dort zunächst sechs Stunden lang zu Fuß über kaum passierbare Straßen in Richtung Kathmandu. Am Freitag fliegt das Paar zurück nach Deutschland.
Unglaubliche Hilfsbereitschaft
Endlich raus! Doch in die Erleichterung mischt sich auch ein schlechtes Gewissen: „Ich habe das Gefühl, ich habe dort alle im Stich gelassen“, sagt Beatrix Reichert. Ihrem Mann geht es ähnlich. Eines nämlich wird ihnen neben der Todesangst besonders in Erinnerung bleiben: die unglaubliche Hilfsbereitschaft der Einheimischen, die selbst vor dem Nichts stehen. Da war der Mann in Kyanjin Gompa, der seine Tochter bei dem Beben verlor, kurz vor der Beisetzung aber noch Kekse brachte.
Da waren andere, die Nahrung teilten. Da war der Lodge-Besitzer, der Mützen verschenkte. Oder die Shopbetreiberin, die ihnen nach stundenlangem Marsch Richtung Kathmandu Mandarinen gab. „Wir müssen darnieder ausgesehen haben.“
Wovon sie alle nun leben sollen? „Touristen werden in das Tal auf absehbare Zeit nicht kommen“, sagt Reichert. Dann zeigt er eine E-Mail von einem der Guides. Er schläft inzwischen mit seiner Familie ebenfalls in einem Zelt, das Haus ist zerstört. Die Mail klingt hoffnungslos. „Dabei ist er eigentlich lebenslustig. Nächstes Jahr wollte er heiraten und selbst ein Haus bauen“, sagt Peter Reichert.
Trotz eigener Sorgen nach dem Beben hätten die Nepalesen ihnen nie das Gefühl vermittelt, eine Last zu sein, berichten die Lieskauer. Beide wollen ihre Helfer nun finanziell unterstützen, wollen für eine Organisation spenden, die direkt im Langtang-Gebiet hilft. Und hoffen, dass es ihnen viele nachtun. (mz)


