Elicia aus Bitterfeld Elicia aus Bitterfeld: Kind kommt ohne Augen auf die Welt

Bitterfeld-Wolfen - „Atemlos durch die Nacht“ - das Lied von Helene Fischer wiegt die kleine Elicia in den Schlaf. Elicia schläft viel. Man könnte meinen, immer. Denn die Augenlider bleiben zu. Tags wie nachts. Elicia ist blind. Dort, wo sich normalerweise die Augäpfel befinden, sind nur zwei stecknadelgroße Löcher. Einen Augenaufschlag, den wünscht sich Yvonne Wydra. Welche Mutter wünscht sich das nicht von ihrem Kind?
130 Kinder in den vergangenen 15 Jahren ohne Augen geboren
Doch ihr Wunsch wird nie in Erfüllung gehen. Elicia aus Bitterfeld kam vor 18 Monaten ohne Augen auf die Welt. Die Gründe, warum es zu dieser Behinderung bei wenigen Embryos im Mutterleib kommt, werden noch erforscht. In den vergangenen 15 Jahren sind in Deutschland 130 Kinder mit diesem Defekt geboren worden.
Anophthalmus, fehlendes Auge, heißt er. Der Defekt könne beidseitig oder einseitig auftreten, erläutert Jens Heichel, Oberarzt für Augenheilkunde im Universitätsklinikum Halle. Bei einem echten Anophthalmus seien die Augenhöhlen komplett leer beziehungsweise frei von jeglichem Augengewebe. Diese Art des Anophthalmus sei extrem selten, erst recht bei beidseitigem Befall, sagt Heichel. Zwei Ursachen gebe es: die eine auf Grund von Gendefekten, die andere auf Grund von toxischen Einwirkungen wie zum Beispiel Infektionen (Röteln) oder aber Sauerstoffmangel.
Der Verein „Tapfere Knirpse“, der im Jahr 2013 von Fotografen ins Leben gerufen wurde, will Familien mit schwer kranken und stark behinderten Kindern in Deutschland ein wenig Mut machen. Heute gehören mehr als 330 Fotografen dazu, die Familien nach ihren Wünschen fotografieren. Denen entstehen keinerlei Kosten. Die Bilder werden, so versichert der Verein, auch nicht für andere Zwecke genutzt.
Mut macht auch der aus Selbitz (Kreis Wittenberg) stammende Fotograf Alexander Baumbach mit den Fotos Familie Wydra. Es sei ein sensibles Thema, das Professionalität erfordert, sagt er. Eltern, die Bekanntschaft mit den „Tapferen Knirpsen“ machen wollen, können sich über ein Kontaktformular bewerben. 550 Anfragen sind bundesweit bereits eingegangen.
Mehr Informationen gibt es unter: www.tapfere-knirpse.de
Augenprothesen aus Glas wurden für Elicia angefertigt. Pupillenfarbe braun, ganz wie die Mutter. Aus Sicht der Mutter ist es nur Kosmetik. Doch für wen? Nur für andere, sagt Yvonne Wydra. Elicia hat sich gegen die Glaskörper entschieden - mit einer einfachen Handbewegung befördert sie die Prothesen ganz weit weg. Bisher. Vielleicht wird sie später mit ihnen leben können. Yvonne Wydra weiß es nicht. Sie wird die Augenprothesen immer wieder anfertigen lassen. Das zweite Paar ist bei der Krankenkasse beantragt. Sie werden der Entwicklung des Kindes angepasst, erzählt die 29-Jährige.
Augen müssen prothesenfähig gehalten werden
Laut Heichel ist es jedoch wichtig, dass die Augen prothesenfähig gehalten werden. Wenn die Augen nicht vorhanden seien, dann wachse die Augenhöhle nicht mit und der Gesichtsschädel würde sich nicht richtig entwickeln. Somit sei es wichtig, dass von klein auf darauf geachtet werde, stetig eine der Größe des Kindes entsprechende Prothese anzupassen, um das Wachstum zu fördern.
„Dadurch besteht die Möglichkeit, durch sich ausdehnende Implantate auch eine Entwicklung der knöchernen Augenhöhle anzuregen“, so Heichel. Elicia ist das vierte, das jüngste Kind der alleinerziehenden Mutter Yvonne Wydra. Das kleine Mädchen war schon jetzt öfter beim Arzt als so mancher Erwachsener. Und viele Besuche werden noch folgen, haben ihr die Mediziner in Gesprächen mitgeteilt. „Eine Behandlung der Ursachen des Anophthalmus-Defektes gibt es jedoch nicht“, sagt Heichel.
Wie der Tagesablauf der Familie aussieht, erfahren Sie auf Seite 2.
Leicht wird es die Mutter nicht haben, ihr Leben wird Yvonne Wydra mit Elicia teilen. „Wir werden gemeinsam alt, das weiß ich“, sagt sie. Während die Geschwister Marek (10), Maja (8) und Elias (4) irgendwann ihren eigenen Weg gehen werden. Doch bis dahin ist noch Zeit. Und das ist gut so. Denn ohne Marek, Maja und Elias ginge manches nicht. „Meine Kinder sind selbstständig, wissen, was zu tun ist, helfen, gehen mir zur Hand“, sagt Yvonne Wydra. „Ich bin stolz auf sie.“
Ihr Tagesablauf hat sich nach der Geburt von Elicia schlagartig verändert. Yvonne Wydra ist rund um die Uhr beschäftigt. Elicia hat jetzt schon die Pflegestufe zwei. Das fordert die Mutter 24 Sunden am Tag. Deshalb ist es gut, wenn Elicias Geschwister da sind. Zumindest einige Stunden am Tag. Diese Stunden sind jedoch gezählt: Es warten Schule, Kindergarten, am Nachmittag Hausaufgaben... Yvonne Wydra will nicht klagen. „Es sind gute Kinder, die ihre Schwester lieben.“
Nach Abzügen bleiben 1.200 Euro im Monat
Zwei von ihnen verbringen derzeit die Ferien in der Schweiz. Die Caritas habe es möglich gemacht, freut sich die Bitterfelderin. Das sei schon toll, dass ihre Kinder dort Ferien machen dürfen. Natürlich wäre ein gemeinsamer Urlaub ganz in Familie ihr großer Traum. „Mal ans Meer.“ Doch daraus wird erstmal nichts. Wie auch? Das Geld ist knapp. 1 200 Euro bleiben im Monat, nach allen Abzügen. Da müsse man immer wieder aufs Neue rechnen, sagt Wydra. Manche Wünsche der Kinder bleiben unerfüllt.
Das macht die 29-Jährige oft traurig. Während ihrer Ausbildung zur Bürokauffrau wurde sie mit Elicia schwanger. Sie hat keinen Berufsabschluss, bekommt Hartz IV, Kindergeld, Pflegegeld. Sie weiß, da ist einiges schiefgelaufen. Das Beste daraus zu machen, ist ihre Devise. Und das vor allem gemeinsam. „Meine Tochter weiß schon, was sie will, sie hat ihren eigenen Kopf“, erzählt Yvonne Wydra. „Mama“ sagt Elicia bereits und lacht.
Über die Zukunft der Jüngsten hat sich die Familie schon Gedanken gemacht. Elicia soll in eine integrative Kindereinrichtung gehen. Im Alter von fünf Jahren wird sie das Landesbildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte in Halle besuchen. So sehe erst einmal Elicias Lebensplanung aus. „Klar ist es gut zu planen, das macht man doch auch bei gesunden Kindern“, meint die Mutter. Warum also bei der Kleinen anders denken? Und doch ist das Leben anders geworden für die Wydras. Was jetzt gemeinsam zählt: Leben für den Augenblick. 8MZ9
