Dieter Hallervorden Dieter Hallervorden: Die Mütze an Stalins Sarg
Dessau/MZ. - Herr Hallervorden, wie erinnern Sie Ihre Dessauer Kindheit und Jugend in zwei Diktaturen?
Hallervorden: Wird mir ewig in Erinnerung bleiben: Zweite Klasse - in unserer Lesefibel wurde erzählt, dass der Führer als kleines Kind in Gedanken versunken mit geneigtem Haupt zur Schule gegangen sei. Und also taperte Dieterchen mit gesenktem Kopf zur Schule nach Ziebigk - ständig intensiv bemüht, glaubhaft Gedankenschwere vorzutäuschen.
Und nach dem 8. Mai 1945?
Hallervorden: Mitschüler, die in FDJ-Blauhemden zum Unterricht erschienen, in dem uns beigebracht wurde, dass die bösen Amerikaner Kartoffelkäfer zum Schaden der Volkswirtschaft über den Feldern abgeworfen hätten, dass der große Stalin der Vater aller Werktätigen sei und dass die BRD revanchistisch wäre.
Der Höhepunkt aber: März 1953. Josef Wissarionowitsch hat den Löffel abgegeben. Vor dem Anhaltischen Theater hat man einen Sarg aufgestellt, bedeckt mit dem Banner der großen ruhmreichen Sowjetunion. Alle Schüler der Stadt müssen vorbeidefilieren und als Zeichen letzter Ehrerbietung die Mütze ziehen. Nicht nur mir ist klar, dass die Holzkiste leer ist. Scherzend sage ich zu dem neben mir defilierenden Mitschüler: "Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es der letzte Wunsch des großen Vaters aller Werktätigen gewesen ist, zum Abschluss noch mal'n bisschen in Dessau vor'm Theater rumzuliegen ... Er konnte sich doch ausrechnen, dass man ihn in dem Zustand nicht mehr reinlässt!"
Wie ging es weiter?
Hallervorden: Ein Lehrer bedeutet mir in Kurzform: entblößter Kopf bei Passieren des Sarges gleich Abitur. Bedeckter Kopf gleich mangelhaftes Klassenbewusstsein gleich Abitur adé! Ich behalte die dämliche Mütze auf. Und schulde im Nachhinein einem Mitschüler Dank, dass er sie mir von meinem Dickschädel haut. Momentaufnahme: meine stolze Mütze segelt vor einem leeren Sarg durch die Luft - und verschafft mir die Voraussetzung für's Studium.
Wie haben Sie die Zerstörung der Stadt im März 1945 erlebt?
Hallervorden: Gott sei Dank gar nicht, weil meine Eltern mich rechtzeitig ins idyllische Städtchen Quedlinburg evakuiert hatten.
Welche anderen Erlebnisse sind Ihnen bis zum Abschied aus Dessau in Erinnerung geblieben?
Hallervorden: Das Auferstehen aus Ruinen. Aus unserer Garage wurde eine Samenhandlung, aus großen Teilen des Gartens ein Hühner- und Ziegenstall und auf dem Dachboden wurde eine - verbotene - Ölpresse installiert. Aufregende Zeiten eines Überlebenskampfes, den meine optimistischen Eltern mit tatkräftigem Einsatz und nimmermüder Energie meisterten.
Und welche Rolle spielte Ihr Großvater Hans Hallervorden?
Hallervorden: Ich kann mir keinen menschlicheren, verständnis- und humorvolleren Opa vorstellen. Er weckte in mir die Liebe zum Gärtnern, unternahm mit mir endlose Spaziergänge in den Wäldern um Blankenburg, er führte mich in Tropfsteinhöhlen und brachte mir bei seinen Besuchen in Dessau - nach seiner Arbeit in Wörlitz - wunderbar schmeckende "Hasenbrote" mit. Und wem das nicht bekannt sein sollte: Mein Großvater war es, der sich 20 Jahre intensiv bemüht hat, den kunsthistorisch wichtigen Anhaltischen Gartenbesitz zu erhalten und großenteils wiederherzustellen. Bis er - das Datum ist bezeichnend - am 1. April 1939 von den Nazis in den Ruhestand getreten wurde. Sein Vergehen: Er hatte ein paar Sieg-Heil-rufende Randalierer gehindert, die Synagoge im Wörlitzer Park in Brand zu stecken. Wenn man auf so einen Opa nicht stolz sein darf, auf wen dann?
Als Künstler haben Sie die Grenze zwischen politischem Kabarett und Comedy neu definiert. Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung?
Hallervorden: Privatfernsehen fördert in erster Linie die eher oberflächliche Unterhaltung. Da viele junge Leute, die sich für die Bühne berufen fühlen, ihre Wertmaßstäbe aus dem Fernsehen beziehen, werden sie immer öfter zu dem, was man heute "Comedy" nennt, verführt. Politisches Kabarett findet im Fernsehen nur noch sehr vereinzelt statt, so dass der Nachwuchs hier dünn gesät ist. Die wenigen, die herausragen, lassen aber die Überzeugung zu: dieser Zweig der Kleinkunst stirbt nicht aus!
Auch als Theater-Unternehmer sind Sie erfolgreich. Wie sehen Sie das deutsche Stadttheater?
Hallervorden: Mehrspartenbühnen lassen sich mit meinem Berliner Theaterchen weder vom künstlerischen noch vom technischen oder Personalaufwand vergleichen. Das Anhaltische Theater etwa hat neben der Unterhaltung einen kulturellen Bildungsauftrag, der für die gesamte Region nicht hoch genug einzuschätzen ist. Hätten jedoch Vorschriften der Berufsgenossenschaft und gewerkschaftliche Belange kein solches Übergewicht, könnten sicher Kommunikationswege verkürzt und die künstlerische Ausbeute gesteigert werden.
Privattheater kommen - selbst wenn man die unterschiedliche Beanspruchung berücksichtigt - mit deutlich weniger Bürokratie aus. Jeder Einzelne, der in einem subventionierten Theater arbeitet, sollte sich bewusst sein, dass seine Anstellung zu 95 Prozent aus Steuergeldern resultiert. Eigeninitiative, Motivation, eine gesunde Besessenheit sind Fundament einer kreativen Arbeit und wiegen im Endeffekt schwerer als eine noch so schöne Arbeitszeitregelung.
Was heißt das konkret?
Hallervorden: Wenn man Erfolg will, darf man nicht ungeduldig auf ihn warten, man muss ihm entgegengehen! Und zwar ohne dass Instanzen in ein Räderwerk eingreifen, von dessen sensiblem Zusammenspiel sie keinen blassen Schimmer haben .. Ich bin ja nun - weiß Gott! - nicht als "Rechter" verschrieen, und deshalb möchte ich es mal ganz unverblümt sagen: Für mich hat eine Gewerkschaft im Theaterbetrieb so viel zu suchen wie 'ne Kuh im Karajan-Konzert.