Hilfe für die Opfer von Gewalt „Die Bilder gehen nicht aus meinem Kopf“
Extreme Ereignisse wie der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg belasten Betroffene und Helfer oftmals über lange Zeit. Wie damit umgehen, wo gibt es Hilfe? Mediziner geben Antworten.
Nach dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt können bei den direkt Betroffenen, ihren Angehörigen sowie Augenzeugen, Ersthelfern, Einsatzkräften, medizinischem Personal und auch scheinbar Unbeteiligten, die das Geschehen nur in den Medien wahrnehmen, erhebliche psychische Belastungsreaktionen auftreten. Solche Reaktionen sind eine natürliche Antwort auf außergewöhnlich belastende Erlebnisse, bedürfen aber bei anhaltendem Leidensdruck oft schneller und wirksamer professioneller Hilfe.
Das haben beim Telefonforum zu diesem Thema Professor Florian Junne, Direktor der Universitätsklinik Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, sowie Professor Thomas Nickl-Jockschat, Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie deutlich gemacht. Die Universitätsmedizin Magdeburg hat dafür eine Spezialambulanz eingerichtet. Fragen und Antworten zum Thema „Hilfe bei psychischen Belastungsreaktionen, insbesondere nach traumatischen Erlebnissen und Ereignissen“ – was die beiden Experten dazu zu sagen haben.Ich bin Augenzeuge des Anschlages von Magdeburg. Die Bilder und Geräusche lassen mich nicht mehr los. Bis heute verspüre ich eine innere Unruhe und bin angespannt, kann schlecht schlafen. Ist das „normal“. Was kann ich machen, um damit klarzukommen?So wie Ihnen geht es sicher vielen. Wenn diese Bilder auftauchen, versuchen Sie, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und sich abzulenken. Hilfreich ist alles, was zur Entspannung beiträgt. Dazu gehört zum Beispiel auch Ausdauerbewegungsport und was Ihnen sonst guttut. Hören Sie zum Beispiel Musik, gehen Sie Ihren Hobbys nach. Wenn Sie Zugang zu Meditations- und Entspannungstechniken haben, nutzen Sie diese. Sollten sich die Probleme dabei aber verschlechtern, unterbrechen Sie das und suchen Sie am besten fachliche Beratung.
Wie man helfen kann
Eine Kollegin war dabei, als es passierte. Sie blieb zum Glück unverletzt. Ich merke, dass sie mit dem Erlebten nicht klarkommt, traue mich aber nicht, sie darauf anzusprechen. Wie kann ich ihr helfen?Vielen Menschen fällt es schwer, nach einem Extremereignis ihre eigenen Belastungen zu thematisieren. Das kann unterschiedliche Gründe haben: Scham, Schuldgefühl oder schlicht ein Gefühl der Betäubung oder der Ratlosigkeit. Abhängig von der Beziehung zu der Betroffenen können Ihre Eindrücke auf einfühlsame Weise über Nachfrage ein guter Weg der Kontaktaufnahme sein. Sie könnten sich zum Beispiel allgemein nach dem Befinden zu erkundigen und gegebenenfalls auch Hilfestellungen bei der Suche nach Beratung anzubieten. Manchmal kann es auch helfen, von eigenen ähnlichen Erfahrungen zu berichten. Ihre Kollegin kann dann gegebenenfalls das Thema aufnehmen. Vielleicht braucht sie auch einfach noch etwas Zeit. Vor Jahren habe ich einen schlimmen Verkehrsunfall miterlebt, bei dem es auch Tote gab. Nun sehe ich die Bilder von Magdeburg im Fernsehen und diese Erinnerungen sind wieder präsent. Ich komme damit nicht klar. Manchmal glaube ich „durchzudrehen“. Wo kann ich Rat und Hilfe suchen?Solche Reaktionen sind häufig und begegnen uns immer wieder. Nach einem schlimmen Erlebnis, welches hohen Leidensdruck und oft über Jahre anhaltende Beschwerden ausgelöst hat, ist es angezeigt, professionelle Hilfe zu suchen. Eine erste Anlaufstelle kann zum Beispiel der Hausarzt sein. Die nächsten Ansprechpartner sind dann in erster Linie psychiatrische und psychosomatische Fachärzte oder psychologische Psychotherapeuten. Sollten die Beschwerden nicht mehr aushaltbar sein und Gedanken aufkommen, sich das Leben zu nehmen: Rufen Sie den Rettungsdienst oder suchen Sie umgehend die nächste Notaufnahme auf!
Magdeburg war besonders schlimm
Seit 15 Jahren arbeite ich im Rettungsdienst und habe dort schon einiges erlebt. Ich war auch nach dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt im Einsatz. Dieses Ereignis verfolgt mich aber besonders. Ich habe das Gefühl, dadurch in meinem Job zu versagen.Katastrophale Ereignisse wie der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt lösen bei nahezu allen, die damit konfrontiert sind, große Erschütterung aus. Das betrifft auch Menschen mit hoher Stresstoleranz, die professionell immer wieder mit solchen Grenzsituationen umgehen müssen. Wegen derartiger Erlebnisse belastet zu sein, ist kein Zeichen mangelnder Professionalität, sondern eine sehr menschliche Reaktion. Auch professionell Helfende haben das Recht auf Beratung, Begleitung oder psychotherapeutische Hilfe. Scheuen Sie sich nicht, diese zu suchen. Auch das Erkennen eigener Belastungen ist Ausdruck von Professionalität.
Meine Familie hatte einen Stand auf dem Markt. Wir haben den Anschlag unmittelbar erlebt. Die Situation war schrecklich: die Schreie, die Bilder… Wir waren die Ersthelfer. Ich habe versucht zu tun, was ich konnte. Trotzdem habe ich mich sehr hilflos gefühlt und weiß nicht, ob ich alles richtig gemacht habe. Seitdem habe ich starke Schuldgefühle. Schließlich ist mir körperlich gar nichts passiert. Wie soll ich damit umgehen?Schuldgefühle sind bei Menschen, die ein solches Ereignis miterlebt haben, ein sehr häufiges Symptom. Das geht vom Eindruck, man hätte nicht genug oder richtig geholfen, bis zur Überzeugung, mitverantwortlich für die Tragödie zu sein. Manche glauben sogar, sie würden das Unglück anziehen. Diese Reaktion der Psyche kennen wir auch von anderen schlimmen Ereignissen, wie Gewalt- und Sexualverbrechen. In jedem Fall ist es wichtig, dass Sie sich vor Augen führen, dass nicht Sie die Verantwortung tragen, sondern der Täter. Im Gegenteil: Sie haben eine zutiefst menschliche Reaktion gezeigt und alles getan, was in Ihrer Macht stand, um zu helfen. Das ist das Gegenteil von Schuld.
Ich war auf dem Markt
Ich war an diesem Tag selbst auf dem Weihnachtsmarkt, stand aber etwas entfernt vom Geschehen, sodass mir nichts passiert ist. Dennoch fühle ich mich seitdem extrem belastet und komme nicht mehr zur Ruhe. Meine Freundin rät mir, zum Psychologen zu gehen. Ich bin doch nicht verrückt!Nach einem solchen extremen Ereignis treten bei sehr vielen, wenn nicht sogar bei allen Menschen Symptome in dieser oder ähnlicher Form auf. Dazu gehören zum Beispiel sich plötzlich aufdrängende Erinnerungen, Anspannungszustände, Albträume oder Vermeidungsverhalten. Die Betroffenen meiden zum Beispiel Menschenmengen oder gehen überhaupt nicht mehr raus. Oft hört das nach und nach wieder auf. Wenn es weiter auftritt, heißt das nicht, dass jemand verrückt ist. Es handelt sich um eine ganz menschliche Reaktion, die bei Fortbestehen behandelt werden sollte. Suchen Sie möglichst frühzeitig professionelle Hilfe. Ansonsten droht ein komplexerer Verlauf und die Behandlung könnte schwieriger und langwieriger werden.Meine Mutter (82) war an diesem Tag auf dem Weihnachtsmarkt. Ihr ist zum Glück nichts passiert. Aber ich merke ihr an, dass seitdem etwas nicht stimmt. Sie redet nicht darüber, was mit ihr los ist. Was kann ich machen?Ihre Mutter gehört noch zur Kriegs- beziehungsweise Nachkriegsgeneration. Damals wurden psychische Probleme als Makel angesehen. Deshalb scheuen Angehörige dieser Generation oft den Weg zum Facharzt oder Psychologen. Heute ist es wissenschaftlich belegt, dass es sich bei psychischen und psychosomatischen Beschwerden weder um eine Charakter- noch um Willensschwäche handelt. Psychische und psychosomatische Erkrankungen gehören – wie körperliche Erkrankungen auch – zum Menschsein dazu. Sie können jeden treffen. Daher rate ich dazu, dass Ihre Mutter fachliche Hilfe in Anspruch nimmt. Bei einem Herzinfarkt würden Sie ja auch den Arzt rufen. Vielleicht hilft es Ihrer Mutter, wenn Sie sie zu einem Arzt begleiten.Wer ist der richtige Ansprechpartner und wo finde ich einen geeigneten Arzt?Niedrigschwellige Anlaufstellen können zum Beispiel die Ambulanzen von psychiatrischen oder psychosomatischen Kliniken sein, wie es sie in Magdeburg zum Beispiel an der Universitätsmedizin oder im Klinikum Magdeburg gibt. Diese Stellen beraten auch, welche Behandlungsoptionen es außerdem gibt. Zudem besteht die Möglichkeit, bei niedergelassenen psychologischen Psychotherapeuten oder entsprechenden Fachärzten einen Termin zu vereinbaren. Hilfreich dabei kann die Servicenummer der Kassenärztlichen Vereinigung 116117 sein, über die Facharzttermine vermittelt werden.Wie sieht so eine Behandlung aus. Muss ich da auf die Couch?Eine Couch werden Sie in unseren Kliniken eher nicht mehr finden. Heute gibt es für alle psychischen Erkrankungen wissenschaftlich fundierte Behandlungsmethoden, die individuell zur Anwendung kommen. Es gibt drei Säulen der Therapie: Psychotherapie, Pharmakotherapie und Neuromodulation. Welche davon angewandt wird und in welcher Form, hängt von der Art und Ausprägung der Krankheit ab und den Präferenzen der Patienten. Neben der ambulanten Therapie, die entweder in regelmäßigen Kurzkontakten oder etwa in wöchentlichen Psychotherapiesitzungen stattfinden kann, gibt es in der Region auch spezialisierte tagesklinische oder stationäre Angebote in Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie oder Kliniken für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.Christian Wohlt hat die Fragen und Antworten notiert.
Hier gibt es Hilfe
Kliniken für Psychische Gesundheit der Universitätsmedizin Magdeburg: Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Direktor: Professor Thomas Nickl-Jockschat, Telefon: 0391-671 5029, Mail: [email protected]
Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Direktor: Professor Florian Junne, Telefon: 0391-671 4200, Mail: [email protected]
Der Bundesopferbeauftragte hat für Hinterbliebene und Betroffene des Anschlags von Magdeburg eine Hotline unter der Nummer 0800/000 9546 freigeschaltet.
Hilfe in Halle: Psychotherapeutische Hilfe bietet auch die Traumaambulanz der Uniklinik Halle an, Kontakt über die Telefonnummer: 0345/557 3639.