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Der stille Held der DDR Der stille Held der DDR: Ein Nachruf auf Kosmonaut Sigmund Jähn

Von Sabine Rennefanz 24.09.2019, 09:00
Dieses Foto kannte im Osten jedes Kind: Kosmonaut Sigmund Jähn sollte mit seinem einwöchigen Weltraumflug in die Geschichte eingehen. Jetzt starb er  im Alter von 82 Jahren.
Dieses Foto kannte im Osten jedes Kind: Kosmonaut Sigmund Jähn sollte mit seinem einwöchigen Weltraumflug in die Geschichte eingehen. Jetzt starb er  im Alter von 82 Jahren. Kosmonaut Sigmund Jähn 

Morgenröthe-Rautenkranz - Es gibt ein, zwei untrügliche Zeichen, die die Herkunft eines Menschen verraten. Wer in der DDR groß geworden ist, kann das Lied „Immer lebe die Sonne“ auf Russisch singen: „Pust swegda budjet mama, pust swegda budu ja.“ Und wer in der DDR groß geworden ist, kennt Sigmund Jähn.

Ich hatte erst am Montagmorgen im Radio gehört, dass er am Wochenende gestorben war. „Der Kosmonaut Sigmund Jähn ist tot“, sagte ich am Frühstückstisch, der erste Deutsche im All. Keine Reaktion. „Er wohnte ganz in der Nähe, in Brandenburg“, fügte ich hinzu, als wäre das von Bedeutung.

„Neil Armstrong ist tot?“, fragte der Fünfjährige, jetzt langsam interessiert. Im August hatte es in seiner Kita eine Projektwoche zum Thema Kosmos gegeben, Anlass war das fünfzigste Jubiläum der Mondlandung. Nun kann er fehlerfrei die Namen Neil Armstrong und Buzz Aldrin aussprechen. Den Namen Sigmund Jähn hatte er vergessen, er war ja auch nicht auf dem Mond.

Mein Mann wusste ein wenig mehr: „Ist das nicht der, der mit den Russen im All war und der dann vergessen wurde, weil er auf der falschen Seite stand?“ Gar nicht schlecht für einen Briten.

Sigmund Jähn startete am 26. August 1978 vom Weltraumbahnhof Baikonur mit dem sowjetischen Kommandanten Waleri Bykowski in der Rakete vom Typ Sojus ins All. Sie verbrachten eine Woche lang an Bord der Raumstation Saljut 6 und umkreisten die Erde 125 Mal. Jähn machte zur Erderkundung Fotos mit der Multispektralkamera MKF 6 und außerdem Experimente zur Kristallzüchtung.

Stilles Auftreten

1978 war die Euphorie der Anfangsjahre über den Aufbau des Sozialismus vorbei, zehn Jahre zuvor war der Aufstand in Prag niedergeschlagen worden, zwei Jahre zuvor war der Liedermacher Wolfgang Biermann ausgebürgert worden. Es gab nicht mehr viel, auf das man in der DDR stolz sein konnte. Auf Sigmund Jähn konnte man stolz sein, selbst wenn man mit der DDR nicht viel am Hut hatte. Womöglich war er der einzige Held, auf den sich alle einigen konnten. Das hatte auch etwas mit seinem unprätentiösen und eher stillen Auftreten zu tun.

Natürlich wurde seine Weltraumfahrt für die Propaganda genutzt, den Wettkampf der Systeme. Am 27. August 1978 erschien das Neue Deutschland mit einer in Rot gedruckten fetten Schlagzeile: „Erster Deutscher im All ein Bürger der DDR“. Und das, obwohl das Wort Deutscher sonst nicht benutzt wurde. „Trittbrettfahrer und Mitesser in der Russenrakete“, schrieb wiederum die westdeutsche Presse. Der Osten durfte nicht gewinnen. Der erste Westdeutsche im All war Ulf Merbold, er flog 1983 mit einem Space Shuttle.

Ich habe keine persönlichen Erinnerungen an den Sommer 1978. Ich war damals, als Sigmund Jähn ins All flog, nur ein bisschen jünger als mein Sohn heute. Aber die Worte Morgenröthe-Rautenkranz, Weltraumbahnhof Baikonur, Sternenstädtchen Moskau, die prägten sich ein. Sie klangen verheißungsvoll, nach weiter Ferne, abenteuerlich, nach einer besseren Zukunft. Die DDR war ein kleines Land, in dem man gut von der Ferne träumen konnte.

Im Wohnzimmer lag der Bildband „Weltall Erde Mensch“, mein Vater guckte „Star Trek“ mit Captain Kirk und Mister Spock, und ich sah das Sandmännchen, das mit der Rakete losfliegt. Später würde ich bei Frau Schneider in der Schule Astronomie lernen. Ab der 10. Klasse war Astronomie in den DDR-Schulen Pflichtfach, schon seit 1959. Nach der Wiedervereinigung wurde der Unterricht aber in vielen Schulen abgeschafft und im Westen nicht übernommen.

In meiner kindlichen Vorstellung vermischte sich damals alles, Captain Kirk und Sigmund Jähn hocken einträchtig nebeneinander. Walentina Tereschkowa, die erste Frau im All, bewies, dass Mädchen überall hinkommen können. Captain Kirk, Sigmund Jähn und Walentina Tereschkowa waren in meinem Kopf keine Feinde, Repräsentanten verschiedener Systeme, wie ich erst später hören würde, sondern zusammen unterwegs, um etwas Großes zu erreichen.

Es schien, als sei es nur eine Frage der Zeit, bis alle, sogar wir - Mutti, Papa und ich - ins Weltall reisen würden. Wir würden Raumschiffe mit einer Selbstverständlichkeit nutzen, mit der man damals Zug fuhr. Wen scherte es, dass man nicht nach West-Berlin reisen konnte, wenn man ins Weltall kam?

In Morgenröthe-Rautenkranz, einer Kleinstadt in Sachsen, wurde Sigmund Jähn am 13. Februar 1937 geboren, sein Vater arbeitete im Sägewerk, seine Mutter war Hausfrau. Sigmund Jähn gehörte zu der Generation, die den Sozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Erlösung erlebte, als eine Chance zum Aufstieg. Er lernte Buchdrucker, ging zur Nationalen Volksarmee, wurde Jagdflieger, Genosse der SED.

1976 wurde er als einer von vier Kandidaten für den Weltraumflug ausgesucht. Nach seiner Rückkehr aus dem All wurde er als „Held der DDR“ und als „Held der Sowjetunion“ ausgezeichnet, Schulen und Kitas erhielten seinen Namen. Nach der Wende wurde es stiller um ihn, er bekam mit der Hilfe von Ulf Merbold einen Job als Berater des Deutschen Zentrums für Luft und Raumfahrt und der ESA in Russland. Seit einigen Jahren lebte er zurückgezogen in Strausberg.

Dass er der DDR sehr viel zu verdanken habe, hat er immer gesagt, auch nach dem Untergang des Staates, an den er geglaubt hatte. Zuletzt wiederholte er das bei einem Treffen mit der Journalistin Jana Hensel im vergangenen Jahr. „Im Westen hätte ich nie Kosmonaut werden können, meine Eltern waren einfache Leute“, wird er zitiert.

Verschwunden und vergessen

Jana Hensel geht in ihrem Text für Zeit online der Frage nach, warum Sigmund Jähn kein gesamtdeutscher Held geworden ist. Wie so viele Namen und Ereignisse aus der Geschichtsschreibung nach 1990 verschwunden und vergessen sind, verschwand auch Jähn. Als sich 2018 sein Weltraumflug zum vierzigsten Mal jährte, bekam er kein Glückwunsch-Telegramm der Kanzlerin, kein Zeichen der Anerkennung von der Bundeswehr als Rechtsnachfolgerin der NVA, der er angehört hatte.

Sigmund Jähn selbst bedeuteten diese Zeichen der Anerkennung offenbar nicht so viel wie anderen. Er habe einmal in seinem Leben erlebt, wie die Schilder mit seinem Namen über Nacht abgehängt wurden, nun müsse er sich am Ende seines Lebens nicht noch mal anschauen, wie sie wieder aufgehängt werden. So zitierte ihn Jana Hensel.

In den Nachrufen ist von Herablassung oder mangelndem Respekt allerdings nichts zu spüren. Die Tagesschau lobt Jähn als „Raumfahrt-Pionier“. Sogar das Auswärtige Amt schreibt auf Twitter von „tiefer Trauer“. Vielleicht hat sich 30 Jahre nach dem Mauerfall doch etwas geändert. Vielleicht hat sich aber auch der Blick auf die Raumfahrt geändert.

Heute denkt kaum jemand mehr, dass es künftig alles besser wird, man kämpft eher darum, dass es nicht schlechter wird. Es geht darum, den Planeten, den Sigmund Jähn von oben bewundern und umrunden durfte, zu retten.  (mz)

Die Titelseite der „Freiheit“ vom 27. August 1978
Die Titelseite der „Freiheit“ vom 27. August 1978
MZ
Sigmund Jähn (links) und der sowjetische Kosmonaut Waleri Bykowski fotografieren sich beim Weltraumtraining gegenseitig. Am 26. August 1978 starteten die beiden vom Weltraumbahnhof Baikonur ins All.
Sigmund Jähn (links) und der sowjetische Kosmonaut Waleri Bykowski fotografieren sich beim Weltraumtraining gegenseitig. Am 26. August 1978 starteten die beiden vom Weltraumbahnhof Baikonur ins All.
imago stock & people, Rudweleit
Der Weltraumflug des ersten Deutschen wurde von der DDR weidlich propagandistisch ausgeschlachtet. Jähn trat bei vielen Veranstaltungen auf. 
Der Weltraumflug des ersten Deutschen wurde von der DDR weidlich propagandistisch ausgeschlachtet. Jähn trat bei vielen Veranstaltungen auf. 
imago stock & people, Rudweleit