DDR-Kinderheime DDR-Kinderheime: Knüppeldicke Finger
Gera/MZ. - Es ist dieser Brief vom Gericht gewesen, der alles wieder aufgewühlt hat. Gert Meschke hatte seinen Frieden gemacht, er haderte nur noch manchmal damit, wie alles gekommen ist. Dann aber kam dieses Schreiben vom Landgericht in Halle, Kammer für Rehabilitierungssachen. "Und da stand drin, dass meine Einweisung in ein Kinderheim nicht in einem groben Missverhältnis zu rechtsstaatlichen Verhältnissen stand", sagt Meschke und schüttelt den Kopf. Die Begründung dafür hält der Mann, der in der DDR elf Jahre in Heimen und Jugendwerkhöfen verbrachte, für "einen Hohn", wie er sagt. "Man habe keine Unterlagen über mich gefunden, also sei das alles in Ordnung gewesen, was mit mir gemacht wurde."
Einmal Glück im Leben
Der 67-Jährige weiß es besser, viel besser. Vieles andere dagegen weiß er nicht. Seinen Geburtstag etwa. Wer seine Eltern sind. Und wie sein richtiger Name lautet. "Ein Zimmermädchen hat mich im Herbst 1944 in einem Zimmer vom Hotel ,Schwarzer Adler' in Greußen gefunden", erzählt Meschke. Da ist der namenlose Junge etwa drei Wochen alt. Und er hat einmal im Leben Glück: Seine Finderin nimmt ihn mit nach Hause und zieht ihn auf wie den eigenen Sohn. "Bis ich sechs war, habe ich ganz normal in der Familie gelebt."
Warum dann alles aus dem Ruder gelaufen ist, hat Gert Meschke nie erfahren. "Eines Tages musste mich meine Mutter vor einer Ärztekommission vorstellen", erinnert er sich an eine Baracke, in der er von Männern in weißen Kitteln begutachtet wird. Die Männer reden über ihn. Danach darf er nicht mehr mit zurück zu Frau Erdmann, die er Mutter nennt.
Gert Meschke wird zum Heimkind, das "Referat Jugendfürsorge" des Kreises Artern, so hat er später herausbekommen, kümmert sich nun um ihn. "Das sah so aus, dass ich fast jeden Sommer aus dem Heim, in dem ich gerade ein bisschen heimisch geworden war, in ein Sammellager bei Saalfeld gebracht wurde und von dort dann in ein neues Heim." Meschke, der Junge ohne Familie, ist bald auch ein Junge ohne Freunde. Dafür kennt er die Lager genau; die schlechten, die schlimmen und die ganz schlimmen, wie er sagt. "Gute gab es ja nicht."
Es sind Erinnerungen an eine Kinderhölle, die Meschke auch mehr als fünfzig Jahre später nicht losgelassen hat. "Sie haben uns nicht wie Menschen behandelt", sagt er, "wer nicht funktionierte, wurde sofort bestraft." Einmal die Schuhe nicht blank geputzt vor dem Abendappell hieß im Kinderheim Burgk: ab in den sogenannten Wasserbunker. "Das war ein Keller, in dem Grundwasser stand, mal höher, mal niedriger." Barfuß mussten die Kinder dort über zwei, drei Stunden ihre Strafe abstehen. "Das Klo war das Wasser in dem du standest", sagt er. "Am Ende warst du blau und hast nur mit den Zähnen geklappert."
Schwerer bestraft wurde, wer wirklich aufmuckte. "Im Klassenzimmer standen immer ein paar Weidenruten schön in einem Wassereimer", beschreibt Gert Meschke. Beim geringsten Anlass gab es "ein paar auf die Pfoten", sagt er. "Wir hatten eigentlich immerzu knüppeldicke Finger."
Es ist ein Leben wie in einer Blase aus Disziplin, Drill und gedämpfter Wahrnehmung, das Meschke und die anderen Kinder führen. "Du warst kein Mensch mehr", beschreibt Meschke, der heute selbst Großvater ist. Er sei ständig herumgelaufen "wie Falschgeld, wie besoffen, mir war einfach irgendwann alles scheißegal, sonst hätte man das auch nicht ausgehalten". Den Schlafsaal mit 20 Jungen, die Bettdecken, die mit Karton auf Kante gelegt werden mussten. Die Namen der Männer und Frauen, die bei der Jugendfürsorge und als Erzieher in den verschiedenen Heimen für ihn zuständig waren, weiß er heute noch genau, eingeprägt haben sich auch ihre Gesichter.
Meschke glaubt, dass er noch einer der Starken war, die sich durchbissen, die auch mal rebellierten, obwohl die Strafe auf dem Fuß folgte. Er hat Freunde neben sich sterben sehen, er selbst ist später direkt nach einem Fluchtversuch aus dem Heim in einen Jugendwerkhof für straffällige Jugendliche eingewiesen worden. Dort macht er eine Malerlehre, weil ihm die vom Amt zugeteilt wird. "Da wurde nicht gefragt." Der Traum, zur See zu fahren, platzt, weil er wegen seiner Heimkindheit und seiner unklaren Herkunft ein ganzes DDR-Leben lang als "politisch unzuverlässig" gelten wird. "Du hast eine Akte, der entkommst du nicht."
Meschke ist dann als Dekorationsmaler ans Theater Nordhausen gegangen, später wird er Porzellanmaler. Einer, der gelegentlich Porzellan zerschlägt: "Ich habe mich abgefunden, aber ich habe nie den Mund gehalten". Nicht einmal in die benachbarte Tschechoslowakei darf Meschke schließlich noch reisen. "Ich wurde wie Dreck behandelt und ich weiß, dass ich Schaden genommen habe."
Schaden, den keine staatliche Entschädigung wird heilen können. Und doch hofft der Rentner, der heute in Gera (Thüringen) lebt, dass der Spruch der Rehabilitationskammer in Halle nicht das letzte Wort gewesen ist. Von 650 Euro Rente lebt er heute, wegen des Urteils der halleschen Richter steht ihm kein Cent für seine Jahre in Heimhaft zu.
Späte Gerechtigkeit
Meschke hofft nun auf den neuen Hilfsfonds für ehemalige DDR-Heimzöglinge. Der ist mit 40 Millionen Euro ausgestattet und soll vor allem denen unter den etwa 650 000 Betroffenen helfen, über deren Schicksal in Kinderheimen und Werkhöfen keine Unterlagen mehr zu finden sind.
Der Fonds ist Gert Meschkes letzte Hoffnung auf ein bisschen späte Gerechtigkeit. "Dass es keine Unterlagen über meinen Fall gibt, kann doch kein Beweis dafür sein, dass mir das alles zu Recht geschehen ist."