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DDR im Sommer 1970 DDR im Sommer 1970: Tödlicher Fluchtversuch über die Ostsee

Von Andreas Frost 25.02.2014, 09:34
Erinnerungen: Günter Müller im Freibad Wolfen (links) und mit Harald Nemitz (Foto Mitte, zweiter von links). Im August 1970 waren Müller (links) und Nemitz gemeinsam am Strand von Kühlungsborn.
Erinnerungen: Günter Müller im Freibad Wolfen (links) und mit Harald Nemitz (Foto Mitte, zweiter von links). Im August 1970 waren Müller (links) und Nemitz gemeinsam am Strand von Kühlungsborn. Frost Lizenz

Bützow/MZ - Noch immer beschleicht Harald Nemitz Traurigkeit, wenn er sich das 44 Jahre alte Foto anschaut. „Günter und ich haben aus Spaß meine Freundin am Strand eingebuddelt. Es ist das letzte Foto von ihm. In der folgenden Nacht ist er rausgeschwommen.“ Für Harald Nemitz zählt sein Jugendfreund Günter Müller zu den Opfern des Grenzregimes der DDR. Für Nemitz steht fest, dass Günter jämmerlich ertrank, als er von Kühlungsborn nach Fehmarn in den Westen schwimmen wollte.

Seit dem Mauerfall sind 25 Jahre vergangen

Seit dem Fall der Mauer ist ein Vierteljahrhundert vergangen, zahlreiche Forscher haben die Akten der DDR-Staatssicherheit durchforstet. Aber den Namen seines Freundes hat Nemitz bislang auf keiner Opfer-Liste finden können. Darum sei es Zeit, von Günters Schicksal zu berichten, sagt Nemitz.

Am Küchentisch in Zepelin bei Rostock (Mecklenburg-Vorpommern) schlägt Nemitz langsam die Seiten des Fotoalbums um. Auf schwarzem Karton hat er Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus den 1960er Jahren eingeklebt. Selbstbewusste Jungs beim Bummel durch ihre Heimatstadt Wolfen (Anhalt-Bitterfeld). Jugendliche, die in gestreiften Bademänteln am Beckenrand auf den nächsten Schwimmwettkampf warten. Ein braungebrannter Junge beim Hechtsprung nach einem Ball am sonnigen Strand. Darunter immer wieder ein sportlicher Junge mit auffälliger blonder Tolle: Günter Müller.

Rund 6 000 Menschen haben seit 1961 versucht, die DDR über die Ostsee zu verlassen. Nur 913 haben es geschafft.

Mindestens 189 Menschen kamen auf der Flucht ums Leben. Zu diesem Ergebnis kommt Christine Vogt-Müller, die in ihrem Buch „Hinter dem Horizont liegt die Freiheit“ von geglückten und misslungenen Fluchten berichtet. Sie vermutet, dass die Zahl der Todesopfer höher liegt.

Ein Drittel der Flüchtlinge versuchte es schwimmend. Offizielle Listen gab es zu DDR-Zeiten nicht. Seit 1961 war auch die Ostsee-Küste von einem engmaschigen Überwachungsnetz überzogen. Wer es ins oder aufs Ostseewasser schaffte, wurde – wenn er entdeckt wurde - oft bis in internationale Gewässer verfolgt.

Dennoch gelang es Flüchtlingen immer wieder in die Bundesrepublik, nach Dänemark oder nach Schweden zu entkommen - mit Sport-, Segel- oder Paddelbooten, auf dem Surfbrett oder der Luftmatratze. Zwei Güstrower bauten sich sogar ein U-Boot - und wurden entdeckt, bevor sie es ins Wasser lassen konnten.

„Er war ein lustiger Mensch. Er tanzte gern. Und wie wir alle liebte er die Beatles“, erzählt Nemitz. Für die meisten von ihnen ist die innerdeutsche Grenze damals „ganz weit weg“. 1962 stieß der 13 Jahre alte Günter Müller zu Harald Nemitz und dessen Freunden in den Schwimmverein. Fast jeden Tag trainierten die Jungs. In den Sommerferien verbrachten sie ganze Tage im Schwimmbad. Günter Müller hielt bald mit den anderen mit, fuhr 1964 zu den DDR-Jugendmeisterschaften. „Er war gut im Brustschwimmen“, erzählt Nemitz, „obwohl nach einem Unfall ein Bein leicht verkürzt war“. Lange hatte er 1961 im Krankenhaus gelegen. Deshalb sei es den Eltern nicht mehr gelungen, vor dem Bau der Mauer in die Bundesrepublik zu gehen. Zwei deutlich ältere Brüder hatten es vorher in den Westen geschafft. Ab und an erzählte Günter Müller, dass er seinen Brüdern hinterher wollte - „in die Freiheit“.

Er wollte seinen Brüdern in die Freiheit folgen

Nach seiner Kochlehre fand Müller eine Anstellung im Rostocker Restaurant „Nordland“. Er versuchte, so schrieb er Harald Nemitz, mit westdeutschen Seeleuten in Kontakt zu kommen, um sich auf ein Schiff schmuggeln zu lassen. Aber der Rostocker Hafen war schwer bewacht. Ein anderes Mal wollte er durch den Hafen zu einem Schiff aus dem „nichtsozialistischen Ausland“ schwimmen. Als sich ein DDR-Patrouillenboot näherte, kehrte er zum Ufer zurück.

Anfang August 1970 fuhr eine Jugendgruppe aus Wolfen zum Zelten nach Kühlungsborn. Für Günter Müller war es, so schien es, eine gute Gelegenheit, alte Bekanntschaften wieder aufzuwärmen. Er wurde im Vorzelt bei Harald Nemitz und dessen damaliger Freundin einquartiert. „Es war sehr warm, auch das Wasser hatte mehr als 18 Grad“, erzählt Nemitz. Nachts sahen sie ein blinkendes Licht am nördlichen Horizont. „Wir haben gescherzt, das müsse der Leuchtturm von Fehmarn sein. Günter fragte, wie weit es wohl bis dahin sei. Aber gedacht habe ich mir dabei nichts.“ Den nächsten Tag verbrachte die Clique am Strand, abends gingen sie in eine Gastwirtschaft. „Günter aß zwei Schnitzel, also doppelt so viel wie die anderen. Aber das ist mir erst im Nachhinein aufgefallen.“

Als sich Harald Nemitz und seine Freundin in ihre Schlafsäcke verzogen, „da schäkerte Günter mit meiner Schwester und deren Freundinnen vor dem Nachbarzelt. Er sagte, er sei noch nicht müde.“ Am nächsten Morgen sah Nemitz die leere Luftmatratze. Arglos glaubte er, Müller schlafe im Zelt nebenan, schließlich hatte er heftig geflirtet. Doch ihm kamen erste Zweifel, denn Müllers Jeans lag im Vorzelt. Dann fragte seine Freundin, warum ihre Nivea-Dose leer sei. „Ich rannte zum Strand. Da standen seine Badelatschen. Meine Schwester sprach aus, was wir alle dachten: Der ist weg über die Ostsee.“ Mit der Creme wollte sich Günter Müller offenbar vor der Kälte schützen.

Am Nachmittag meldeten sie Günter Müllers Verschwinden bei der Volkspolizei. „Wir wurden mehrmals verhört. Ich stellte mich ahnungslos, denn ich konnte doch nicht zugeben, dass ich von Günters Fluchtgedanken wusste.“ Niemand aus der Clique wollte als mutmaßlicher Mitwisser einer „Republikflucht“ in die Mangel genommen werden. Also schwiegen sie - für lange Zeit.

Er ist in den Tod geschwommen

Harald Nemitz hat nie wieder von seinem Freund gehört. Für ihn stand bald fest, dass Günter Müller den Weg über die Ostsee nicht überlebt hat. „Er hatte keinen Schutzanzug, er hatte keine Schwimmflossen, er hatte keine Taucherbrille. Er hatte nichts.“ Als erfahrener Schwimmer wusste Nemitz, „wie schnell man friert und wie schnell einen dann die Kraft verlässt“. Nicht vorstellen mag er sich, wie Günter Müller weit draußen in der dunklen Ostsee ertrunken ist.

Nemitz´ Gefühle schwanken zwischen Wehmut, Trauer um den verlorenen Freund und Verzweiflung über dessen verhängnisvollen Wagemut: „Ich hätte es ihm gegönnt, dass es klappt. Aber ich wusste: Er ist in den Tod geschwommen.“

Harald Nemitz blättert in seinem Fotoalbum.
Harald Nemitz blättert in seinem Fotoalbum.
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