Erinnerungen an FDJ-Jugend Erinnerungen an FDJ-Jugend: Die Gedanken sind frei

Lützen - An der Heimoberschule gab es nicht nur individuelle internatliche Freizeitgestaltung, sondern auch organisierte außerunterrichtliche Betätigung, die nominell als FDJ-Arbeit galt, aber weitgehend zeitlos erschien. Diese relative Zeitlosigkeit zeigte sich in der Arbeit des von Hugo Wölz geleiteten gemischten Schulchores, dem etwa die Hälfte der Schülerschaft als Sopran, Alt, Tenor oder Bass angehörte. Obwohl bestenfalls als Bariton brauchbar, wurde ich nach dem Vorsingen im Musikunterricht letzterer Stimme zugeordnet.
Bürgerliches Liedgut
Zum Repertoire des Chores zählte kaum proletarisch-revolutionäres, dafür umso mehr bürgerlich-demokratisches Liedgut. Daher sangen wir weder das von einem russischen Revolutionär gedichtete Kampflied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, noch das der englischen und amerikanischen Arbeiter „Brüder, seht die rote Fahne“, sondern den Hymnus „Brüder, reicht die Hand zum Bunde“. Das Weihelied mit der Mozartschen Melodie und den freimaurerischen Gedanken, die den „Weltenmeister“ preisen, hätte wie den Kanon des Wiener Meisters „Dona nobis pacem“ auch ein Kirchenchor singen können. Diese gemäßigte Ausrichtung zeigte sich auch in dem alten Burschenschaftslied „Die Gedanken sind frei“, das mit seinem Aufruf zur Meinungsfreiheit durchaus systemkritisch verstanden werden konnte.
Der kleine Trommler
Jene gewisse Zeitlosigkeit demonstrierte auch der 1955 gegründete Spielmannszug, den Hausmeister Ritter leitete, der während seiner Wehrmachtsjahre in einer solchen Formation mitgewirkt hatte. Unsere bestand aus gut 30 Teilnehmern, damals ausschließlich Jungen, war mit Querpfeifen und kleinen Trommeln instrumentalisiert, die in Fünferreihen mit je drei Pfeifern und zwei Trommlern antraten, davor eine Lyra und am Schluss Becken und große Trommel. Einer der „kleinen Trommler“ war ich.
„Schrumm, schrumm, schrumm, wer arbeit’, der ist dumm …“
Unsere anfängliche Bekleidung mit weißem Hemd und dunkler Krawatte passte ebenso zu dem eher neutralen Gebaren wie das Repertoire. Nach den reinen Trommelteilen Reveille und Locke lernten wir als erstes Melodiestück den Jägermarsch, zu dem Volksmund die Zeilen gereimt hatte: „Schrumm, schrumm, schrumm, wer arbeit’, der ist dumm …“ – eine Aussage, die den Aufrufen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität nachgerade widersprach. Erweitert um den Yorkschen Marsch, den schon vorherige Gesellschaftssysteme vereinnahmt hatten, führten wir am 1. Mai 1956 in zwei umliegenden Dörfern die Demonstration an, um Geld für Instrumente zusammenzutrommeln. Dabei meinte ein Dörfler, dass man zu unserem gemächlichen Sound fast Tango tanzen könnte. Dem Gelderwerb diente auch der Auftritt im Zusammenhang mit der Vereidigung einer NVA-Einheit in Weißenfels, bei der ein Vereidigter übereifrig meldete: „Ich diene der Deutschen Demokratischen DDR“.
Der Spielmannszug stand auch für das Heimatfest im gleichen Jahr zur Verfügung und bei der Beerdigung unseres alten Heizers. Mit Trauerflor und gedämpftem Trommelschlag ging es zum Friedhof in der Schweßwitzer Straße, wo dumpfe Schläge die Grablegung begleiteten.
Anschließend marschierten wir zurück, wobei Tambourmajor Ritter jenen Jägermarsch anstimmen ließ, zu dem die Volksseele auch diese Textzeile beigesteuert hatte: „Schon wieder eine Seele vom Alkohol gerettet …“. Die Entrüstung der Trauergäste war groß, wozu unser „Band-Leader“ lapidar meinte, dass beim Militär solches Prozedere üblich wäre. Während der „Trauermarsch“ einmalig blieb, gehörte der Einsatz beim schulischen Fahnenappell zur Norm. Dieser wöchentliche Event fand auf dem umzäunten Platz vor dem Jungeninternat statt, wobei „Schorsch“ einen Trommelwirbel schlug, zu dem eine Fahne am Mast hochstieg, worauf eine kurze Rede meist organisatorischen Inhalts folgte. Am Schluss erklang aus dem Schülerkarree ein mehrstimmiger Gesang, über den Gert Rockstroh gedichtet hat: „Ein Lied wir sangen beim Flaggenhissen, ziemlich dienstbeflissen, aber nicht hingerissen“.
Musikalische Sehnsucht
Es war jedoch schön, beispielsweise unseren Volksliedfavoriten zu hören „Wenn die bunten Fahnen wehen, geht die Fahrt wohl übers Meer“. Mit dieser Sehnsucht nach der Ferne marschierten wir gemächlichen Schrittes zur Schule, wozu der Spielmannszug vorzugsweise das schwäbische Volkslied intonierte „Das Lieben bringt groß Freud“. Diesen Titel zeigte unser Tambourmajor pikanterweise mittels einer durch Daumen und Zeigefinger gebildeten Öffnung an. Aber ein Schelm, wer Schlechtes dabei dachte, denn auch hierbei galt: „Die Gedanken sind frei“. (mz)
