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Aus Namibia in die DDR Aus Namibia in die DDR: Staßfurts vergessene Kinder

Von CLAUS BLUMSTENGEL 22.07.2011, 16:03
Die Waisenkinder aus Namibia lernten in der DDR afrikanische Tänze, um die Verbindung zu ihrer Heimat nicht zu verlieren. (FOTO: PRIVAT)
Die Waisenkinder aus Namibia lernten in der DDR afrikanische Tänze, um die Verbindung zu ihrer Heimat nicht zu verlieren. (FOTO: PRIVAT) CARDO

Halle (Saale)/MZ. - Der Tourist wollte gerade die Independence Avenue vor dem Kalahari Sands Hotel in der namibischen Hauptstadt Windhoek überqueren, da hörte er hinter sich jemanden in bestem Hochdeutsch rufen: "Vorsicht, die fahren hier wie die Bierkutscher!" Der Mann aus Deutschland drehte sich um und sah einige Schwarze, die ihn schelmisch anschauten. "Ich heiße Claus Thomas und bin in der DDR aufgewachsen", klärte einer von ihnen den verdutzten Touristen auf und begann mit einer spannenden Geschichte.

Claus Thomas (31) war knapp drei Jahre alt, als er 1983 mit vielen anderen namibischen Waisenkindern in die DDR kam. Zuletzt besuchte er die "Schule der Freundschaft" in Staßfurt. "Gruppe 2" hieß die verschworene Gemeinschaft, zu der Thomas sieben Jahre lang gehörte.

Das erste, woran er sich in seinem Leben erinnern kann, ist die Ankunft im Winter im Schlosspark von Bellin im heutigen Mecklenburg-Vorpommern. Hier im Schloss hatte die DDR-Staatsführung für die kleinen Namibier ein Kinderheim einrichten lassen. Der Dreijährige dachte damals, der Schnee im Park sei Zucker, spuckte das unbekannte, kalte Zeug dann aber enttäuscht wieder aus.

James Kauluma (35) war schon 1981 in Bellin angekommen. Wie sein Freund Claus Thomas kann er sich an seine Eltern nicht erinnern. Auch nicht an den Tag, an dem er sie verloren hat; denn an jenem 4. Mai 1978 war James gerade mal zwei Jahre alt. Von den Bomben, die die Südafrikaner damals auf das Flüchtlingslager Cassinga in Angola abgeworfen haben, und den Gewehrsalven, die Vater, Mutter und viele seiner Spielkameraden töteten, berichteten ihm später ältere Jungen.

Vor dem Kampf zwischen den Südafrikanischen Truppen, die Namibia besetzt hielten, und den Unabhängigkeitskämpfern der Südwestafrikanischen Befreiungsorganisation (Swapo) war die Familie Kauluma mit Hunderten anderen nach Angola geflüchtet. Doch der Krieg holte sie ein. Mehr als 600 Flüchtlinge wurden bei dem Massaker am 4. Mai getötet. Darunter 122 Kinder.

Um die überlebenden Mädchen und Jungen vor dem Verhungern und vor weiteren Angriffen der Südafrikaner zu bewahren, bat die Swapo ihre Verbündeten Kuba, die damalige Tschechoslowakei und die DDR um Hilfe. Ab 1979 wurden nach und nach 430 namibische Kinder nach Berlin-Schönefeld ausgeflogen.

Für die deutschen Vornamen vieler dieser Waisenkinder hat Claus Thomas eine einfache Erklärung: "Viele von uns waren doch noch so klein und wussten ihre Namen gar nicht." So haben die Erzieher in der DDR ihnen als erstes deutsche Namen gegeben und die Geburtstage festgelegt. "Ich hieß Claus Thomas Bode", sagt der junge Mann, der seinen richtigen Namen Schangelao Shiweda erst 1990 nach seiner Rückkehr von Verwandten in Namibia erfahren hat.

Erschrocken seien er und seine Freunde, als sie in Berlin-Schönefeld das Flugzeug verließen, berichtet Paulus Namunjebo (34). "Wir wussten ja, dass Weiße unsere Eltern umgebracht hatten. Und da sahen wir auf einmal nur Weiße", blickt er zurück.

Im Schloss Bellin untersuchten die quirligen Rangen, die bisher nur Hunger kannten, in den ersten Tagen alles auf Essbarkeit. Da schmeckte sogar die Zahncreme. "Ich hatte noch nie vorher einen Spiegel gesehen und wusste zuerst nicht, dass der Junge darin ich selbst war", erinnert sich Peter Haindongo (31).

Die Waisen wurden im Heim Bellin von namibischen und deutschen Erzieherinnen betreut, gingen in einen Kindergarten und zogen ab 1985 in Etappen in die "Schule der Freundschaft" nach Staßfurt um. Gern denken Paulus, Peter, Claus Thomas und ihre Freunde an den Unterricht in der Willi-Wallstab-Oberschule in Löderburg bei Staßfurt und an die liebevollen Lehrerinnen und Lehrer dort zurück. Sie schwärmen noch heute von den Wochenenden bei Tate (Vater) Herbert Zinke und seiner Frau Meme (Mutter) Sabine, die - ebenso wie andere Lehrer und Erzieherinnen - die Kinder abwechselnd mit nach Hause nahmen. "Wir hatten immer genug zu Essen und ein warmes Bett, wir konnten duschen, zum Geburtstag, Weihnachten und Ostern gab es Geschenke, es war eine schöne Kindheit", blickt Claus Thomas auf seine sieben Jahre in der DDR zurück.

Die meisten dieser ehemaligen Staßfurter haben die DDR tief in ihren Seelen konserviert. Immer wieder schwärmen sie von den Ferienlagern an der Ostsee, von den Handball-, Fußball- und Basketballmannschaften, in denen sie in Staßfurt gespielt haben. Anderes ist verdrängt und wird nur nach hartnäckigem Fragen erzählt. Zum Beispiel, dass die DDR-Führung die Existenz dieser schwarzen Kinder lange geheim halten wollte, dass die Mädchen und Jungen ihre Unterkünfte hinter hohen Mauern und kaum überwindbaren Zäunen über Jahre nur in Gruppen mit ihren Betreuerinnen verlassen durften. Oder dass es von den namibischen Erzieherinnen, vom Militärausbilder und auch von so mancher DDR-Pädagogin mit sozialistischem Staatsexamen im Heim Bellin Schläge hagelte, wenn sich die Acht- bis Zehnjährigen beim Lesen allzuoft verhaspelten, beim Exerzieren rechts mit links verwechselten oder gar beim Beten zu Kalunga, dem Gott des Owambo-Stammes, erwischt wurden.

"Wir kannten es ja nicht anders und haben anfangs auch gar nicht gefragt, ob wir mal allein 'raus dürfen", erklärt Theo Zibonwa (35). Später in Staßfurt, als die Namibier erste Liebesbande knüpften, bekamen sie mehr Freiheiten. Dass sie von Einheimischen manchmal "Schokoladenkinder" und "Negerküsse" genannt wurden und es in der Disko im Staßfurter Kreiskulturhaus ab und an zu Schlägereien mit deutschen Jugendlichen kam, erwähnen die jungen Namibier eher beiläufig.

"Thälmannpioniere, Appelle, Jugendweihe, militärische Ausbildung und Manöver mit Holzgewehren - wir hatten das volle Programm", berichtet James Kauluma. Mit der Evakuierung in die DDR sollten die Kinder ja nicht nur gerettet werden, ergänzt Paulus Namunjebo. "Wir sollten kommunistische Kader werden, Soldaten, Polizisten, Ärzte, Regierungsmitarbeiter, die Elite Namibias", meint er.

Nahezu zeitgleich kam es 1990 zur Wende in der DDR und zur Unabhängigkeit Namibias von der Herrschaft Südafrikas. Die Swapo forderte nun die namibischen Kinder aus der DDR zurück, die dort mitten in ihrer Schulausbildung steckten.

In Namibia kümmerte sich anfangs niemand so recht um die Heimkehrer. Die Swapo-Funktionäre erkannten nicht, welch unermessliche Schätze diese Mädchen und Jungen in ihren Köpfen aus der DDR in den jungen Staat brachten. Die Bundesrepublik Deutschland sorgte dann dafür, dass viele dieser Kinder in Namibia deutsche Schulen besuchen konnten. Die meisten von ihnen führen heute ein normales Leben, sie studieren wie Claus Thomas, arbeiten als Reiseführer wie Theo, als Musiklehrer, Angestellter der Regierung, Pilot, Richter, Marketing-Manager oder als Journalistin.

Einige aber sind gestrauchelt. Peter Haindongo ist einer von ihnen. Den Touristen vor dem Kalahari Sands Hotel fragt der Vater einer zweijährigen Tochter, der eigentlich mal Soldat, Polizist, Manager oder Politiker werden sollte, nach dem langen Gespräch: "Hätten Sie vielleicht mal ein paar Dollar? - Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen."

Mit ihren erhobenen Fäusten bekunden fünf- bis siebenjährige Waisenkinder bei einem Appell 1982 im Kinderheim Schloss Bellin ihre Bereitschaft, in der Swapo für die Unabhängigkeit Namibias von südafrika zu kämpfen und ihr Leben zu opfern. (FOTO: PRIVAT)
Mit ihren erhobenen Fäusten bekunden fünf- bis siebenjährige Waisenkinder bei einem Appell 1982 im Kinderheim Schloss Bellin ihre Bereitschaft, in der Swapo für die Unabhängigkeit Namibias von südafrika zu kämpfen und ihr Leben zu opfern. (FOTO: PRIVAT)
CARDO