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30. September 1989 30. September 1989: Schkopauer erlebte Genschers Rede live in Prag

Von Steffen Könau 30.09.2014, 07:11
Ulrich Aust ist 1993 wieder nach Schkopau zurückgekehrt, heute arbeitet er bei den Stadtwerken in Halle.
Ulrich Aust ist 1993 wieder nach Schkopau zurückgekehrt, heute arbeitet er bei den Stadtwerken in Halle. Andreas Stedtler Lizenz

Halle (Saale) - Was der Mann auf dem Balkon sagte, hat Ulrich Aust nicht verstanden. Das „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise...“ hat der Mann aus Schkopau damals im Herbst 1989 noch verstanden. Dann aber schnitt ein Jubelschrei dem westdeutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher das Wort ab, der allen, die ihn damals hören konnten, deutlich machte, dass die DDR am Ende ist.

Für Ulrich Aust, damals 21 Jahre alt, bedeutet der Schrei aber noch mehr als das Ende des Staates, dessen Sicherheitsbehörden ihn erst zur Flucht getrieben hatten: Er bedeutet Freiheit, Neuanfang, ein Leben ohne Angst.

Einen richtigen Fluchtplan hat Aust vor der größten Reise seines Lebens nicht. Wie bei vielen anderen, mit denen er jene fünf Tage Ende September eng zusammengepfercht im Garten des Palais Lobkowicz verbringen wird, ist es pure Furcht vor dem Verlust der letzten Chance, die ihn nach Prag getrieben hat. Nach kritischen Bemerkungen im Betrieb waren zwei Herren bei ihm erschienen, die ihm für den Wiederholungsfall „Konsequenzen“ androhten. „Ich saß danach wie gelähmt“, schreibt Aust damals in sein Tagebuch.

„Ulrich, hau ab, ehe es zu spät ist!“

Es dauert keine Stunde und er hat seinen Entschluss gefasst. „Die Vernunft sagte mir: „Ulrich, hau ab, ehe es zu spät ist!“ Wie ein Roboter sucht der Schkopauer einen Stadtplan von Prag heraus, er marschiert zum Bahnhof, kauft voller Angst eine Fahrkarte, denn selbst der freundliche Blick der Fahrkartenverkäuferin scheint ihm Bedrohliches zu verkünden. Zwei Tage nach dem Besuch der grauen Herren sitzt Ulrich Aust im Zug, er hat Geld, Adressen, Geburtsurkunde, Impfausweis, Zeugnisse und Facharbeiterbrief dabei. Um nicht zu früh aufzufliegen, hat er 20 Mark auf seinem Konto stehenlassen. „Meine Eltern waren im Urlaub und wussten nichts.“

Warum ein einfacher Zettel dem Schkopauer fast eine Herzinfarkt bescherte und wie sich seine Ankunft in Prag gestaltete, lesen Sie auf Seite 2.

Aber die Grenzer ahnen alles. Die Züge nach Prag sind voll in jenen Tagen, und es sitzen meist junge Leute drin. Aust ist aufgeregt, ein junger Mann in seinem Abteil nicht minder. „Ich hatte einen verhängnisvollen Fehler gemacht und einen Zettel mit Westadressen in der Brieftasche verstaut.“ Natürlich zieht der Grenzer den Zettel prompt heraus, er liest, faltet ihn zusammen . . . Ulrich Aust ist dem Herzinfarkt nahe. Bis der Grenzbeamte ihm eine gute Reise wünscht.

Ständige Angst

Gemeinsam mit dem jungen Mann aus seinem Abteil sucht Aust in Prag die bundesdeutsche Botschaft. Polizeiabsperrungen. Wieder Angst, erwischt und zurückgebracht zu werden. Dann aber ein ganzer Tross von jungen Leuten mit Reisetaschen. Am Zaun bricht Panik aus. Alle rennen, klettern über den Zaun. „Neben mir hievten sie einen Kinderwagen hoch“, erinnert sich Ulrich Aust.

Drinnen aber wartet nicht die Rettung, sondern eine endlose Schlange. Zwei Stunden steht der Schkopauer, um sich registrieren zu lassen. Es liegt ein Angebot des DDR-Staranwaltes Wolfgang Vogel vor: Wer freiwillig in die DDR zurückkehrt, könne mit der offiziellen Ausreise in die BRD rechnen. Aust lehnt ab. Wie alle anderen.

Keine Schlafplätze, kein Essen

Die Zustände in der völlig überfüllten Botschaft sind erbärmlich. Es gibt keine Schlafplätze, es gibt kein Essen. Allein an dem Tag, an dem Aust über den Zaun geklettert ist, sind über 600 Neuankömmlinge eingetroffen. Der Ansturm überfordert die logistischen Möglichkeiten der kleinen Botschaft. Am Abend hockt Ulrich Aust auf einer Treppenstufe, hungrig und todmüde. „Aber an Schlaf war nicht zu denken.“

Warum Aust die Nacht im Stehen verbringen musste und wie er den Moment erlebte, als Genscher den AHlbsatz sprach, lesen Sie auf Seite 2.

Am Morgen erst wird dem jungen Mann klar, wo er gelandet ist. Durch den Regen und das ständige Getrampel tausender Menschen ist der Garten verwüstet. Der Tag vergeht mit Anstehen. Nach Essen, am Klo. Für die mittlerweile 4 000 Menschen auf dem Gelände gibt es drei Toiletten. Im Radio heißt es, dass mit dem Ausbruch von Seuchen gerechnet wird. Botschaftsmitarbeiter geben sich alle Mühe, verteilen Zigaretten. Ulrich Aust verbringt die Nacht im Stehen.

Er hat Zeit zum Nachdenken. „Wir alle hier versuchen, ein elementares Menschenrecht zu erzwingen“, schreibt er in sein Tagebuch. Das kann kein Unrecht sein. Am Abend geht das Gerücht um, Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher sei in der Botschaft. Alles drängt zum Hof. Fernsehsender bauen Kameras auf. Scheinwerfer sind auf den Balkon gerichtet. Als oben Männer auftauchen, schallen Sprechchöre von unten: „Deutschland, Deutschland“ und „Genscher, Genscher“.

Dann wird es still, ganz still. Und Genscher sagt den Satz, der für alle hier eine Befreiung ist. Der Aufschrei. Das Glück in den Augen. Frauen fallen in Ohnmacht, Leute stürzen von den Zäunen. „Sani, Sani“, ruft es aus allen Ecken. Ulrich Aust steckt mitten im Getümmel, er denkt in diesem historischen Moment nicht an die Freiheit, nicht an seine Ausreise, nicht daran, dass ihn die DDR nun nicht mehr zurückholen kann. „Ich dachte nur, meine Tasche, meine Tasche! Ulrich, bleib ruhig!“, erinnert er sich. Sven, der Junge aus dem Zug, läuft ihm über den Weg. Er heult.

Straßenschlachten und Proteste

Später geht es in Bussen zum Bahnhof, Tschechen am Straßenrand winken den Ausreisenden zu. Dann fahren Sonderzüge über das Gebiet der DDR Richtung Westen - so hat es die DDR-Führung gewollt, um einen Rest an Machtanspruch zu behaupten. Der Plan geht schief, die Züge in die Freiheit werden in Städten wie Dresden von Tausenden erwartet, die zusteigen wollen. Es kommt zu Straßenschlachten auf der freien Strecke und neuen Protesten gegen die Parteispitze.

Eine Woche nach dem Beginn seiner Flucht sitzt Ulrich Aust in einem Aufnahmelager in der Oberpfalz. Frei, endlich frei, denkt er. Erst 20 Jahre später wird er erfahren, wie der Satz vollständig lautet, mit dem Hans-Dietrich Genscher sein Leben änderte. Bei einem Besuch in der Botschaft hat er ihn auf einer Gedenktafel nachgelesen, die im Botschaftshof steht. (mz)

Die berühmte Szene in der Prager Botschaft am 30. September 1989
Die berühmte Szene in der Prager Botschaft am 30. September 1989
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