17. Juni 1953 in Halle 17. Juni 1953 in Halle: Student stirbt am Gefängnis Roter Ochse
Halle (Saale) - Gerhard Schmidt will am 17. Juni 1953 mit seiner Frau eigentlich zu seinen Schwiegereltern, als der Protest gegen das politische System in der DDR losbricht. Vorm Gefängnis Roter Ochse in Halle stirbt er durch eine Kugel aus einer Polizeiwaffe. Die offizielle Version seines Tods: Schmidt sei von „faschistischen Provokateuren“ erschossen worden. Die Mörder reklamieren das Opfer für sich.
Sieben Tage braucht die Kriminalpolizei, um den Mord nicht aufzuklären, der vor aller Augen stattgefunden hat. Am Gefängnis Roter Ochse in Halle war der 27-jährige Gerhard Schmidt an jenem 17. Juni 1953 von einer Kugel getroffen worden. Ein Lungendurchschuss, der den Doktoranden der Landwirtschaftsfakultät der Martin-Luther-Universität sofort zusammenbrechen lässt.
„Wir haben ihn in unser Haus geholt“, schildert eine Anwohnerin später, ihr Mann habe ihm sogar noch eine Herzspritze gegeben. Auf dem Weg in die Klinik aber stirbt der jungverheiratete FDJler, getötet von einer Kugel aus einer Polizeiwaffe, wie sein Doktorvater Gerhard Friedrich später bezeugen wird. „Der Lungendurchschuss war relativ unproblematisch, hätte man nicht mit Explosivmunition geschossen.“ So aber hat der Treffer die Lunge völlig zerrissen - ein klarere Hinweis auf den Täter. „Explosivgeschosse hatten nur Polizei und Sowjetarmee.“
Gerhard Schmidt ist ein schmaler junger Mann mit dünnen Lippen und einer dicken Scheitellocke. In den Mittagsstunden des 17. Juni vor 60 Jahren will er mit seiner Frau Verena eigentlich nur zu seinen Schwiegereltern, als der Protest von Arbeitern, Angestellten und Studenten gegen das politische System in der DDR losbricht. Schmidt ist weder Scharfmacher noch Anführer des Aufruhrs. Doch der Sohn eines Juristen sympathisiert mit dem Aufstand, wie seine Frau sagt. „Wir waren begeistert, wie von den öffentlichen Gebäuden die Stalinbilder abgerissen wurden.“
Vor dem Gefängnis bleibt das Paar trotzdem nicht allzulange stehen. Hier ruft eine empörte Menge Parolen wie „Wir wollen freie Wahlen und keine Zuchthausqualen“. Schmidts sind am Weitergehen, „als das Tor aufgerissen wurde, und die Polizei in die Menge schoss“. Niemand schießt zurück. Doch vier Menschen sterben. Einer von ihnen ist Gerhard Schmidt.
Ein Tod aber ist nicht genug in diesen Tagen, in denen die DDR ihr Überleben kämpft. Nicht nur mit Kugeln, nicht nur mit der Unterstützung von Sowjet-Panzern, die überall auffahren, wo die Lage außer Kontrolle zu geraten droht. Sondern vor allem mit Hilfe propagandistischer Tricks: Die Wirklichkeit wird verbogen und umgelogen, bis sie in die Verteidigungslinie passt.
Ernsthafte Versuche, den Schützen zu ermitteln, der Schmidt auf dem Gewissen hat, gibt es nicht. Dafür aber eine Erklärung: „Die Kugel, die Gerhard Schmidt traf, sollte die große Sache des Weltfriedens treffen“, heißt es eine Woche nach der Tat in der „Freiheit“. Die polizeilichen Ermittlungen hätten ergeben, dass Schmidt von „faschistischen Provokateuren“ erschossen worden sei, als eine „ganze Horde solcher Subjekte“ versucht habe, „die Strafanstalt am Kirchtor unter Anwendung von Schusswaffen zu stürmen“. Die Banditen hätten dabei „umherstehende Bürger zur Teilnahme an ihrem Gewaltstreich“ aufgehetzt und „auf jeden geschossen, der sich ihnen widersetzte“. Dabei sei „der Jugendfreund Schmidt durch einen Pistolenschuss niedergestreckt“ worden.
Es ist der zweite Mord an ihrem Mann, dem seine Frau Verena Roennecke hilflos zuschauen muss, ein Rufmord diesmal. Die Mörder reklamieren das Opfer für sich: Aus dem Mitläufer mit Sympathien für den Aufstand wird ein „aufrechter Patriot“. Schmidt habe sich „als Funktionär der Freien Deutschen Jugend den Banditen entgegengestellt“ und sei deswegen ermordet worden, so die offizielle Version.
„Uni-Professor Leo Stern erklärte uns, die Uni würde das Begräbnis ausrichten“, erinnerte sich Verena Roennecke. So wird aus der Beerdigung „zu unserem Entsetzen ein Staatsbegräbnis“. Die DDR-Staatsmacht scheut in den Momenten ihrer größten Schwäche keinen Aufwand, um Stärke zu zeigen. 5 000 FDJler werden in Marsch gesetzt, von „unserem Gerhard“ spricht der Nachruf der FDJ-Bezirksleitung. Sogar FDJ-Chef Erich Honecker meldet sich und betrauert den Tod „eines unserer besten unerschrockenen Kampfgefährten“.
Was wirklich geschehen ist in jenen Augenblicken vor dem Roten Ochsen, spielt keine Rolle mehr. Die Inszenierung ist wichtiger als die Wahrheit. Jugendbrigaden verurteilen die Tat nun als Werk „imperialistischer Kriegstreiber“, vor dem Eintreffen des Trauerzuges auf dem Kröllwitzer Friedhof nehmen Junge Pioniere Aufstellung und die Halloren geben dem Sarg mit den sterblichen Überresten des Polizeiopfers das letzte Geleit.
„Ich habe mich in Grund und Boden geschämt, wenn ich die grimmigen Gesichter der Passanten sah, die nicht ahnten, dass wir nur die Opfer eines makabren Theaters waren“, berichtet Verena Roennecke nach dem Ende der DDR, als sie dem Historiker Manfred Hagen in einem Brief schilderte, wie ihr Mann ein zweites Mal unschuldig zum Opfer wurde, ohne dass die Familie sich dagegen wehren konnte.
Dass es eine Polizeikugel gewesen war, die ihn getroffen hatte, daran bestand wegen der Art der verwendeten Munition kein Zweifel. Dass die Ermittlungsbehörden dennoch keinen Täter finden würden, war ebenso ausgemacht. Nur als Opfer von „Aufständischen“ war Gerhard Schmidt nützlich, als Polizeiopfer hingegen wäre er gefährlich geworden.
Denn gerade in Halle hatte der Sturm der Empörung am 17. Juni hohe Wellen geschlagen. Eine Mischung aus Versorgungsengpässen, der Enttäuschung über die politische Entwicklung und Empörung über die von der Regierung verordneten Lohnsenkungen hatte schon seit Tagen so viel Unruhe geschürt, dass die Staatssicherheit nicht umhin kam, der Parteiführung eine zunehmende Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu melden. Geradezu erschrocken klingen Geheimberichte vom Tag: Das MfS führt Protokoll, völlig paralysiert und angesichts der demonstrierenden Massen unfähig einzugreifen.
Wolfgang Schwachenwalde, damals wie Gerhard Schmidt Landwirtschaftsstudent an der MLU, erlebt die Ereignisse aus nächster Nähe. „In der Steinstraße holten riesige Menschenmengen die Häftlinge aus dem Gefängnis“, berichtet er seinem Vater in einem noch am selben Abend geschriebenen Brief, „überall liegen zertretene Transparente - die Begeisterung der Volksmassen fand kein Ende“.
Wie Schmidt ist Schwachenwalde kein Rebell, aber auch er sympathisiert mit den Ideen der Aufständischen. Der 23-Jährige wird zufällig zum Protokollanten der Ereignisse, die die DDR für alle Zeit verändern werden. Zuerst schließt er sich den Arbeitern an, die in Arbeitskluft zur Regierung in der Willi-Lohmann-Straße ziehen, und sieht dort, wie „Bilder, Büsten, Bücher, Transparente, Fahnen und Agitationsmaterial in rauen Mengen zu allen Fenstern“ fliegen. Scheiterhaufen werden angezündet, ehe die Massen sich zum Zuchthaus am Kirchtor aufmachen. „Dort gab es einen Kampf mit Wasserwerfern und Steinen“, schreibt Wolfgang Schwachenwalde, und ergänzt knapp: „Später noch Schießerei.“
Das ist der Moment, in dem Gerhard Schmidt tödlich getroffen zusammensinkt. Den Aufstand aber hält das nicht auf. „Auch auf dem Markt alles voller Menschen“, berichtet Schwachenwalde, „sie marschierten und demonstrierten unter den Losungen wie „Nieder mit der Regierung“ und „Spitzbart, Bauch und Brille, das ist nicht unser Wille“. Die Demonstranten fordern freie Wahlen, die „Absetzung aller Regierungsleute“, eine Preissenkung und eine Senkung der verhassten Normen. Die Konfrontation ist total. „Im Rathaus sitzt die Stadtverwaltung, rundrum Volkspolizei mit aufgepflanztem Bajonett.“ Auch das SED-Hauptquartier, am Nachmittag von Demonstranten gestürmt, wird von Polizisten geschützt.
Es sind Stunden des disziplinierten Protests, aber auch Stunden der Anarchie. „Dann kamen die Russen mit Panzern, Kanonen, Spähwagen, Krad, schwer bewaffnet mit Stahlhelm“, schreibt der Augenzeuge, „und dann wurde geschossen, meist Warnschüsse, aber auch scharf, speziell von der Volkspolizei.“ Die Russen dagegen hätten sich „ruhig und anständig“ verhalten. „Sie sind nur empört, dass die kochende Volksseele auch Marx-, Engels-, Lenin- und Stalinbilder zertrümmert.“
Abends sind die Straßen voll von Papier, Glas, Farbe, Holz, Asche. „Überall stehen schwere russische Panzer“, berichtet Wolfgang Schwachenwalde, „die russischen Kradfahrer fuhren toll auf den Bürgersteigen in die Menschenmenge.“ Er selbst fasst sich ein Herz und fordert sie „in ruhigen Worten“ auf, das bleiben zu lassen. „Was sie dann auch befolgten.“
Die Stille nach dem Schuss. Kurze Zeit später verhängt der sowjetische Militärkommandant den Ausnahmezustand. „Demonstrationen, Versammlungen und Zusammenrottungen und jeder Aufenthalt auf den Straßen ist von 21 Uhr bis vier Uhr verboten“, heißt es unmissverständlich. Dem Generalstreik, zu dem das hallesche Streikkomitee für den 18. Juni aufgerufen hat, schließen sich dennoch zahlreiche Betriebe an, am Nachmittag kommt es sogar noch einmal zu einer Demo auf dem Markt, die aber von der Polizei mit Waffengewalt aufgelöst wird. Eine Angestellte eines HO-Kaufhauses, die gerade auf dem Weg nach Hause ist, wird von einer Polizeikugel getroffen. Sie ist das letzte Opfer in Halle. „Hoffen wir, dass wir einem besseren Leben entgegengehen“, schließt Wolfgang Schwachenwalde seinen Brief an seinen Vater.