Sohn nach Schlägerei gestorben Sohn nach Schlägerei gestorben: Marcus' Vater vertraut dem Rechtsstaat nicht mehr

Wittenberg - Karsten Hempel kämpft verzweifelt um Gerechtigkeit für seinen Sohn. Der 30-Jährige stirbt an seinen schweren Schädelverletzungen infolge eines Sturzes in einer Klinik. Zuvor ist der junge Mann Opfer einer tätlichen Auseinandersetzung vor dem Einkaufszentrum Arsenal im September 2017 geworden.
Hempel wird vor Gericht als Nebenkläger auftreten. Sein Anwalt bastelt derzeit am Mordvorwurf. „Es fehlt noch der niedere Beweggrund“, so Roland Ulbrich. Doch der, so hofft der Jurist, könne bald präsentiert werden. Die Umstände der Tragödie - oder des Verbrechens - sind noch immer nicht geklärt.
„Ich habe nie gedacht, dass ich das einmal sagen werde: Aber ich habe den Glauben an den Rechtsstaat verloren“, so Hempel. Dabei gibt es von den Ereignissen an diesem Freitag scheinbar ein aussagekräftiges Video. „Ich habe es mehr als 100-mal gesehen“, so der 53-Jährige. „Es ist brutal.“
Das Zupfen an einer Frau
Zu sehen sind die tödlichen Sekunden auf dem Video in der 14. Minute, von der 54ten zur 56ten Sekunde. Zunächst verlassen vier Flüchtlinge das Kaufhaus, während Marcus, der Sohn, und seine Begleiterin sich auf die Einkaufstour vorbereiten und ihre Räder anschließen. Ein Syrer, gegen den wegen des Verdachts der Körperverletzung mit Todesfolge ermittelt wird, reckt in Richtung der Neuankömmlinge die Faust oder zeigt sogar einen Stinkefinger.
Das ist nicht eindeutig zu sehen. Das Quartett, das schon in Richtung Kirche unterwegs ist, kehrt plötzlich zurück und umringt Marcus, der mit dem Rücken zur Wand steht. Seine Begleiterin - das kann zur Schlüsselszene werden - wird von den Männern an der Kleidung gezupft. Es beginnt eine Rangelei. Marcus versucht, die Frau und sich aus der misslichen Situation zu befreien.
Ob einer seiner Schlagversuche tatsächlich trifft, ist nicht genau zu erkennen. Die Reaktionen des 17-jährigen Syrers - es ist die offizielle Altersangabe - sehr wohl. Sein erster Schlag ist so wuchtig, dass das Basecap von Marcus vom Kopf fliegt. Beim zweiten Schlag verliert der 30-Jährige das Gleichgewicht. Im Fallen gibt es den dritten Schlag. Als Marcus schon am Boden liegt, holt der Syrier zum vierten Mal aus, schlägt aber nicht mehr zu. „Das waren gezielte Schläge eines trainierten Mannes“, so der Jurist.
Polizei nennt Tatverdächtigen
Die Bilder im Video decken sich mit dem, was die Wittenberger Polizeibeamten in ihrem ersten Bericht schreiben. Auch die erste Pressemeldung der Polizei listet die Fakten, die auf dem Video eindeutig zu sehen sind, auf. Demnach sei der „Geschädigte vom Tatverdächtigen mehrfach ins Gesicht geschlagen worden“. Danach sei der junge Mann geflüchtet. Im Rahmen einer Nahbereichsfahndung sei der 17-Jährige als Beschuldigter bekanntgemacht worden. Die Beamten sprechen vom Tatverdächtigen.
Über Nacht gewinnt die Dessauer Staatsanwaltschaft neue Erkenntnisse und gibt eine eigene Pressemitteilung - das ist ungewöhnlich - heraus. Plötzlich ist nur noch „von einem Faustschlag“ die Rede. Und der Tatverdächtige oder Beschuldigte löst sich in Luft auf. Und erstmals werden „zum Teil ausländerfeindliche Beschimpfungen“ erwähnt. Die Staatsanwältin, die die Erklärung verfasst hat, betont aber auch, dass dies „vermutlich“ so sei.
Die Video-Aufzeichnungen sind ohne Ton. Und im Gegensatz zu den Polizisten vor Ort, die den Fall nach Dessau abgeben müssen, erklären die Ankläger nun: „Aufgrund der bisherigen Ermittlungen dürfte derzeit von einer Notwehrhandlung mit tragischen Folgen auszugehen sein.“ Eine Behörde spekuliert wild darauf los: „vermutlich“ und „dürfte“.
Dabei wird vor allem eines deutlich: Eine Unschuldsvermutung für das Opfer - und das nicht zum ersten Mal - gilt bei der Dessauer Staatsanwaltschaft offensichtlich nicht. Die Erklärung wird nicht nur zur Steilvorlage für die Alternative für Deutschland. Das Arsenal wird zeitweise Wallfahrtsort rechter Demonstranten.
Und der Fall wird noch makaberer. Auf seiner Facebook-Seite wird Marcus nach dem Vorfall anscheinend aktiv. „Das kann mein Sohn nicht gewesen sein. Er hat auch in der Klinik das Bewusstsein nicht wieder erlangt“, so der Vater, der weder von Polizei noch der Staatsanwaltschaft die Todesnachricht erhält. Auch seine Anfrage an die Wittenberger Stadtverwaltung - Hempel will einen kleinen Gedenkstein am Arsenal für seinen Sohn anbringen - endet im Schweigen.
Hempel lässt trotzdem nicht locker und fordert eine lückenlose Aufklärung. „Wir haben eine Altersfeststellung verlangt, die wurde aber abgelehnt, weil die bei einer Notwehr nicht erforderlich sei“, so Hempel. Aber vor allem geht es um ein zweites Video. „Das haben wir schon viermal schriftlich angefordert“, so Hempel.
Und eben bisher nicht erhalten. Ist das die Trumpfkarte der Staatsanwaltschaft, um die Notwehr zu beweisen? Tatsächlich sind die Aufnahmen aus einer anderen Perspektive, die den Beginn der Auseinandersetzung deutlich besser zeigen könnten. Aber Ulbrich erhofft sich von der Aufzeichnung, dass seine Theorie bestätigt wird.
Demnach bedrängen die Männer die Frau. Sie soll „Fasst mich nicht an!“ gerufen haben. „Marcus wollte nur Nothilfe leisten“, so der Anwalt. Aber „Notwehr gegen Notwehr“ gehe aus juristischer Sicht nicht, so der Experte. In dem Fall würde die Dessauer Staatsanwaltschaft noch mehr in Erklärungsnot geraten.
Der Chef der Behörde - inzwischen in den Ruhestand verabschiedet - war nicht bereit, mit der MZ über die Vorwürfe zu sprechen. Inzwischen ermittelt Magdeburg. Justizministerin Anne-Marie Keding (CDU) hat dafür den „Wohnortwechsel des Beschuldigten“ verantwortlich gemacht. „Wenn sich jemand einer Strafverfolgung entziehen will, muss er nur oft genug umziehen“, lästert der Anwalt.
Der Islam und die Hunde
Laut Ulbrich kannten sich der mutmaßliche Täter und sein Opfer. Es soll vor der Tragödie schon eine verbale Auseinandersetzung gegeben haben. Dabei ging es um einen Hund. „Im Islam gelten Hunde gemeinhin als unreine Tiere, denen man lieber aus dem Weg geht“, so Hempel. Ist ein Vierbeiner, der Marcus noch nicht mal gehörte, das Motiv? Der niedere Beweggrund?
Die Antworten muss jetzt die Magdeburger Staatsanwaltschaft liefern. Deren Sprecher Frank Baumgarten rechnet Ende Juni mit dem Abschluss der Ermittlungen. Es seien noch Befragungen von Zeugen geplant, sagt er am Dienstag. Nach MZ-Informationen schweigt der Beschuldigte. Das ist in seiner Situation aber nicht ungewöhnlich. (mz)
