"Offener Vollzug" "Offener Vollzug": Ein Kölner bietet in Wittenberg Henkersmahlzeiten an

Wittenberg - Am weiß eingedeckten Tisch direkt vorm Tresen arbeiten sich die Gäste durch die Karte. So ziemlich alles ist auf der Wunschliste vertreten - von Wienerwürstchen mit Kartoffelsalat über Antipasti bis zum exotischen Hummer. Das schöne Tier mit den stattlichen Scheren landet blassrosa und wehrlos im Kochtopf und gelangt wenig später leuchtend rot auf den Teller seines Bestellers.
Man kann sich an diesem Samstag, es ist Erlebnisnacht in Wittenberg, kulinarisch sogar am Maskottchen derselben, dem ebenfalls roten Feuervogel, delektieren - in Form einer Erdbeerbowle. Das Original stolziert durch die Altstadt.
Essen „made in Prison“
Mit den Speisen, die sonst als „Henkersmahlzeit“ in der Freiluftgastronomie „Offener Vollzug“ kredenzt werden, haben die Angebote an diesem 19. August wenig zu tun. Unverändert ist das Gütesiegel „Made in Prison“, denn die lukullischen Genüsse (ja, auch an Vegetarier wird gedacht) werden frisch zubereitet am alten Wittenberger Gefängnis. Das hat schon sehr lange keine Gefangenen mehr gesehen.
Zuletzt stapelten sich in Teilen des aus Wilhelminischer Zeit stammenden Gemäuers die Akten des Grundbuchamtes vom benachbarten Amtsgericht, doch auch das ist schon eine Weile her. Im Zuge der Weltausstellung Reformation haben nun zeitgenössische Künstler von Rang die Gefängnis-Zellen mit ihren Arbeiten eingerichtet.
Die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ ist ganz klar zu einem Hotspot der Weltausstellung geworden. Ihrem Publikum, das man gewiss auch in Berlin und Kassel antreffen könnte, wollten die Organisatoren aber offenbar nicht nur geistige Nahrung anbieten, sondern auch Kost für das leibliche Wohl. Der veranstaltenden Stiftung Kunst und Kultur in Bonn schien insoweit einer besonders geeignet: Michael Holtmann. Dabei ist es gar nicht selbstverständlich, dass der in seiner Heimatstadt Köln nicht unbekannte Gourmet-Gastronom jetzt den „Offenen Vollzug“ in Wittenberg betreibt. Denn als die Anfrage kam, habe er spontan und sofort Nein gesagt.
Vier Monate Sachsen-Anhalt - für Holtmann unvorstellbar
Vier Monate Sachsen-Anhalt, lange ein weißer Fleck auf der Landkarte, waren unvorstellbar für den Mann, der in dieser Woche seinen 55. Geburtstag feierte, Vater von fünfjährigen Zwillingen ist, 2016 sein Restaurant in Köln verkauft habe, weil über 20 Jahre Abend- und Nachtarbeit in der Gastwirtschaft „genug“ seien, und der bis 2017 offenbar noch nie einen Fuß in das ostdeutsche Bindestrich-Land gesetzt hatte.
Bei der Stiftung haben sie allerdings nicht locker gelassen, erzählt Holtmann am Erlebnisnacht-Samstag auf dem Gefängnishof, der sich füllt und füllt, was den beiden Mitarbeitern aus Köln (eine junge Frau aus dem von Holtmann betriebenen Café im Museum für angewandte Kunst und ein ehemaliger Küchenchef) alles abverlangt und vorübergehend zu gewissen Wartezeiten führt.
Zurück zu Holtmann - der hat sich schließlich Wittenbergs Imagefilm angesehen und im März 2017 erstmals die Wiege der Reformation besucht. Und was soll man sagen: Schon als er vom Hauptbahnhof Richtung Amtsgericht spazierte, habe er gedacht: „Mensch, das ist ja echt ’ne schöne Stadt!“ Dass die inzwischen kein weißer Fleck auf der Landkarte mehr ist, hat auch oder besonders mit den Menschen zu tun, die ihm hier begegne(te)n und von denen ihm einige zu Beginn seines Wittenberg-Engagements „mit großer Hilfsbereitschaft“ zur Seite standen.
Die war auch wichtig, denn die vorgefundenen Bedingungen erwiesen sich als eher suboptimal. Im Gefängnis selbst fand sich für eine Gastronomie kein Raum und die beim Nachbarn, dem Amtsgericht, vermutete (erhoffte!) Kantine mit Kühlräumen existiert überhaupt nicht. Holtmann hat daraufhin ein Ladenlokal in der Stadt für Lagerzwecke angemietet. Er arbeite auch mit regionalen Anbietern zusammen, bei denen er Zutaten für den „Offenen Vollzug“ einkauft (wobei der Maine-Lobster aus Berlin angeliefert werde). Auch eine Wohnung für seine Mitarbeiter wurde lokal angemietet.
Dass Holtmann inzwischen gern in Wittenberg ist (und regelmäßig sowieso), dürfte aber auch damit zu tun haben, dass seine in einem Container-System auf dem alten Gefängnishof untergebrachte Gastronomie gut läuft. Längst haben die Henkersmahlzeiten ihre Stammkundschaft, neben anderen wird Wittenbergs Oberbürgermeister Torsten Zugehör gelegentlich im „Offenen Vollzug“ gesehen, auch zur Erlebnisnacht kehrte er mit seiner Frau dort ein. Zugehör, sagt Holtmann, habe seinerzeit das Thema vorgeschlagen. Tatsächlich hieß der Politiker (und Jurist) im März zur Schlüsselübergabe an Walter Smerling von der Stiftung Kunst und Kultur die Anwesenden „herzlich willkommen - zum offenen Vollzug“.
Verlängerung im Gespräch
Wie es mit der gleichnamigen Freiluftgastronomie weitergeht, darüber denkt Holtmann nun schon eine Weile nach. Eigentlich endet sein Auftrag mit der Schließung der Avantgarde-Schau, das wäre der 17. September. Aber vielleicht, wenn die Ausstellung verlängert wird (und dazu gibt es Gespräche), bleibt auch Holtmanns „Offener Vollzug“ noch geöffnet.
(mz)