Legendärer Thesenanschlag in Wittenberg Legendärer Thesenanschlag in Wittenberg: Luther hat es wirklich getan
Wittenberg - Es ist jetzt offiziell, wissenschaftlich geklärt und Teil der Staatsräson: die „Tatsache!“ des Thesenanschlags. Das Ausrufezeichen steht wirklich im Titel des Buchs, das „Die Wahrheit über Luthers Thesenanschlag“ verkünden will, vor der breitschultrigen Silhouette des - was sonst - hammerschwingenden Mönchs , der aus der Wittenberger Schlosskirchentür welterleuchtende Funken schlägt.
Der fast 150-seitige schmale Band war am Mittwoch Gegenstand einer Buchvorstellung im Lutherhaus mit den Autoren Benjamin Hasselhorn und Mirko Gutjahr, beide aus dem wissenschaftlichen Team der Stiftung Luthergedenkstätten. An die hundert diskussionsfreudige Bürger erschienen zu werktäglicher Vormittagsstunde im klösterlichen Gewölbe.
Das von FAZ-Korrespondent Reinhard Bingener moderierte Podium bot auch Ministerpräsident Rainer Haseloff eine Bühne. Der Katholik und Spross einer seit Lutherzeiten ortsansässigen Familie zeigte sich unerschüttert von dem seit den 1960er-Jahren schwelenden Disput um „Fakt oder Fiktion“ des Ereignisses vom 31. Oktober 1517: „Der hat uns in Wittenberg nie destabilisiert.“
Auch nicht im Jubiläumsjahr, in dem doch so mancher „im Konjunktiv“ vom Thesenanschlag gesprochen habe. Schließlich pilgerten die Leute seit fünf Jahrhunderten an die Thesentür. „Und an diesem Ort“, fügte er zu allgemeiner Heiterkeit hinzu, „stelle ich mich Konjunktiven vehement entgegen.“
Mögen die Autoren auch eher der Wissenschaft verpflichtet sein, so machten sie doch deutlich, dass sie sehr wohl geschichtspolitisch unterwegs sind. Sie beschränkten sich nicht darauf, ihre im Buch ausgebreiteten Argumente zu referieren. Sie wollen das Wort vom „Mythos“ entdämonisieren.
Zuspruch in Wittenberg gewiss
Der Trend zur „Entmythologisierung“ habe die Kulturwissenschaften lange geprägt, stoße aber „auf immer mehr Schwierigkeiten.“ Genau das, so Benjamin Hasselhorn weiter, könne man am Beispiel des Thesenanschlags beobachten. Die „Entlarver“ ersetzten lediglich den bekannten Mythos mit ihrem eigenen. Etwa wenn davon die Rede ist, Luther habe die Thesen in Briefen verbreitet, nicht per Anschlag: Das stilisiere den handelnden Reformator zum „Denker“. „Mythos ist bildhafte Verdichtung der Realität. Wir stellen die Frage, ob der Mythos adäquat ist.“
Zuspruch dürfte dem Buch, zumindest in der Lutherstadt, gewiss sein. Nennenswerte Gegenargumente waren aus dem Publikum nicht zu hören. Die Lektüre des Werks ist gleichfalls ohne viel Vorkenntnis und flüssig zu bewältigen, gelingt es den Autoren doch, den Stand der Diskussion anschaulich zusammenzufassen.
Suggeriert aber die Aufmachung des Buchs nicht etwas anderes? Einen unumstößlichen neuen Beleg, eine zwingende These vielleicht? Auch wenn das Titelblatt mit Berserker, Blitz und Ausrufezeichen nicht reißerisch, sondern ironisch und spielerisch gemeint sind, was Verlagschefin Anette Weidhas nicht müde wurde zu betonen, so weckt er doch eine entsprechende Erwartung.
Ein Kapitel ist „Ein neuer Quellenfund“ überschrieben, doch damit ist nur die vor gut zehn Jahren wiederentdeckte und seitdem viel diskutierte Notiz von Luthers Sekretär Georg Röhrer gemeint, der zu Luthers Lebzeiten, aber nicht als Augenzeuge, davon schrieb, der Reformator habe seine Thesen „an die Türen“ (im Plural) „der Wittenberger Kirchen angeschlagen“.
Am Fall Röhrer exerzieren sie ihren virtuosen Umgang mit den „Zweiflern“, deren Argumente sie als in ihrem Sinne beweiskräftig umdeuten. Ja, Röhrer war kein Augenzeuge genau wie Melanchthon, der ein Jahr nach Luthers Tod den ganzen Mythos mit seinem Vorwort zu Luthers gesammelten Werken überhaupt erst in Gang setzte. Immerhin aber, sagen Hasselhorn und Gutjahr, waren sie jahrzehntelange Weggefährten Luthers. Sollten sie beabsichtigt haben, den Thesenanschlag zu „kanonisieren“, wie einige Wissenschaftler behaupten, dann habe sich die Wirkung erst Jahrhunderte später eingestellt.
Thesenanschlag Luthers als Rebellischer Akt
Das allerdings kommt in „Tatsache!“ zu kurz: Der Hammerschlag ist in der Tat erst im 19. Jahrhundert zum bildmächtigen protestantischen Gründungsmythos geworden. Gewollt oder ungewollt rehabilitieren die Autoren genau dieses Bild. Ihr Einstieg macht deutlich, warum: Sie klopfen die Thesen auf Hinweise ab, dass in ihnen, und nicht erst zwei, drei Jahre später, der entschlossene Reformator und polemische Papstgegner in Erscheinung tritt.
Sie reagieren damit auf den im betont ökumenisch gefärbten Jubeljahr wieder aufgenommenen Versuch, Luther den Katholiken als Kirchenreformer (statt Spalter) schmackhaft zu machen. Es spreche aber alles dafür, sagen sie, dass der Thesenanschlag stattfand und genau das war: ein rebellischer Akt.
Der Disput um die Faktizität des Thesenanschlags hat im Jubiläumsjahr für Verunsicherung gesorgt, aber die Wissenschaft war schon längst auf dem Weg, für den Hasselhorn und Gutjahr jetzt so entschlossen eine Bresche schlagen. „Nahezu mit Sicherheit wurden die Ablassthesen an die Schlosskirchentür angeschlagen, wie es die allgemein anerkannte Erzählung besagt“, heißt es etwa bei Andrew Pettegree in „Die Marke Luther“, nach einer Aufzählung von Gründen, die zum Teil sogar weiter geht als bei Hasselhorn und Gutjahr. Aber gut: Es bleibt spannend.