1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Wittenberg
  6. >
  7. Kriegsgefangenenlager in Kleinwittenberg: Kriegsgefangenenlager in Kleinwittenberg: Licht ins Dunkel der Geschichte

Kriegsgefangenenlager in Kleinwittenberg Kriegsgefangenenlager in Kleinwittenberg: Licht ins Dunkel der Geschichte

Von Stefanie Hommers 18.06.2018, 07:01
Eine Postkarte vom Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­ger­ in Kleinwittenberg
Eine Postkarte vom Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­ger­ in Kleinwittenberg Archiv/privat

Wittenberg - Wer sich historische Postkarten von Kleinwittenberg aus dem Jahr 1915 anschaut, stößt auf zwei markante Architekturen. Das eine ist die Christuskirche, das andere ein zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Windeseile errichtetes Kriegsgefangenenlager.

Die Silhouette des Gotteshauses gehört bis heute zum Ortsbild, an das Lager hingegen erinnert -abgesehen zwei Gedenksteinen auf den Friedhöfen von Kleinwittenberg und Piesteritz – nichts mehr.

Das Thema sei „insgesamt unglaublich schlecht erforscht“, konstatiert John Palatini. Doch der in Wittenberg geborene und in Halle lebende Historiker hat sich daran gemacht, vor Ort ein wenig Licht ins Dunkel dieser Geschichte zu bringen. Am Dienstagabend stellte er die Ergebnisse seiner Forschungen zum Kriegsgefangenenlager in Kleinwittenberg in der Christuskirche vor.

Mehr als 100 Neugierige waren gekommen, um den bisherigen Ergebnissen des vom Bundesprogramm „Demokratie leben“ geförderten und vom Verein Pflug mitgetragenen Projektes zu lauschen. Palatini und sein Mitstreiter Florian Thomas, der als Bundesfreiwilliger bei Pflug arbeitet, konnten sich auf eine außergewöhnlich gute Quellenlage stützen.

In internationalen Archiven

Sie erforschten Entstehung und Entwicklung des Lagers anhand von historischen Tageszeitungen aus dem In- und Ausland, gingen Listen des Internationalen Roten Kreuzes durch, zogen Zeitzeugenberichte und Zeichnungen heran und wühlten in Kreis-, Landes- sowie Kirchenarchiven, wurden nicht zuletzt im Britischen Nationalarchiv fündig und konnten sogar auf einen US-amerikanischen Stummfilm zurückgreifen.

Es trägt den Titel „Wenn es doch erst vorbei wäre! - Wittenberg im Ersten Weltkrieg 1914 bis 1918“. Das Buch haben Christel Panzig, Haus der Geschichte Wittenberg, und Joachim Heise, Berliner Institut für vergleichende Staat-Kirche-Forschung, zur Geschichte Wittenbergs und der Wittenberger in den vier Kriegsjahren herausgebracht.

Die Publikation ist im Haus der Geschichte in Wittenberg für 29,90 Euro erhältlich.

Schon bei Kriegseintritt begannen vielerorts die Vorbereitungen für die Errichtung von Lagern für Kriegsgefangene, denn das Deutsche Reich war 1907 der Haager Landkriegsordnung beigetreten, die in zahlreichen Artikeln auch Grundsätze zur Behandlung von Kriegsgefangenen festlegt.

In Kleinwittenberg fanden am 10. September erste Gespräche zwischen dem Vierten Armeekorps und der Stadtkirchengemeinde Wittenberg statt. Denn für die Errichtung des Lagers wurde Kirchenland gebraucht – bislang zur landwirtschaftlichen Nutzung verpachtet und unmittelbar bei der Christuskirche gelegen.

Schon am 15. September startete der Bau von zunächst 48 Wohnbaracken, in denen französische, englische, italienische und vor allem russische Gefangene untergebracht wurden – insgesamt geht man von rund 15.000 Gefangenen während des Ersten Weltkrieges aus. Viele wurden als Arbeitskräfte vor allem in der Landwirtschaft eingesetzt. Aber auch in der Industrie – etwa bei Joly, bei der Wasag und auch beim Bau des Reichsstickstoffwerkes waren Kriegsgefangene im Einsatz.

Schon bald reichte der Lager-Raum nicht mehr aus; in den für je 100 Menschen ausgelegten Barackengebäuden mussten sich oft doppelt so viele Gefangene den Raum teilen. Die hygienischen Zustände angesichts der Enge waren problematisch, die errichteten Krankenbaracken erwiesen sich 1915 als „völlig unzureichend“, so Thomas. Eine Typhusepidemie brach aus, in deren Folge zahlreiche Menschen starben.

Unter dem Stichwort „German Horrors“ wurden die Geschehnisse in Kleinwittenberg auch international bekannt. Wittenberg wurde gleichsam zum Synonym für das Grauen in deutschen Kriegsgefangenenlagern. Der damalige US-Botschafter James W. Gerard bezeichnete das Lager als „das zweifellos schlimmste“, das er in Deutschland besucht habe.

Unter den rund vierhundert englischsprachigen Zeitungsberichten, die Palatini durchforstet hat, sei nur ein einziger gewesen, der die Situation in den deutschen Lagern als weniger problematisch schildert und schlechte Lebensbedingungen als Ausnahme nennt.

Auch Worte sind Waffen

Gleichwohl mahnt Palatini an, nicht jedes Wort für bare Münze zu nehmen. Man habe im Ersten Weltkrieg nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Worten gekämpft und einzelne Geschehnisse propagandistisch ausgeschlachtet. James W. Gerard etwa sei entschiedener Befürworter eines Kriegseintritts der USA gewesen. Seine Veröffentlichung unter dem Titel „My four years in Germany“ diente auch dem Zweck, den Boden dafür zu bereiten, ist sich der Historiker sicher.

Um valide Aussagen treffen und vergleichen zu können, müsse man die verfügbaren Daten und Fakten aus anderen Lagern auswerten. Für Sachsen-Anhalt stehe die Forschung dabei noch ziemlich am Anfang und nicht überall sei die Quellenlage so gut wie in Kleinwittenberg.

Wichtig sei, „Wissen zu erwerben und es für die Gesellschaft fruchtbar zu machen“ oder wie Christel Panzig vom Pflug-Verein es formuliert: „Wenn wir Demokratie leben wollen, müssen wir uns mit dem Thema Krieg auseinandersetzen“. (mz)