Ein heiteres Treffen mit tragischen Tönen
WITTENBERG/MZ. - Die Gäste kommen aus verschiedenen Regionen der Republik, der weitaus größte Teil ist indes aus Wales nach Wittenberg gekommen. Es ist ein weiter Weg, den sie zurückgelegt haben. Er führt in die Vergangenheit der Stadt und direkt zu den familiären Wurzeln der Osterbesucher, denn sie sind allesamt Nachfahren von Käthe und Paul Bosse. Heini Gruffudd hat die Zusammenkunft organisiert: Der bekannte walisische Autor ist der Sohn der aus Hitlerdeutschland geflohenen Ägyptologin Kate Bosse-Griffiths und Enkel von Käthe Bosse, die dem Naziterror nicht entkam. Die evangelisch getaufte Christin wurde wegen ihre jüdischen Herkunft verfolgt, letztlich schützte sie auch die Ehe mit dem angesehenen Wittenberger Arzt Paul Bosse nicht. Käthe Bosse starb 1944 in Ravensbrück. Seit auf Initiative einiger Wittenberger Bürger ein Stolperstein an ihr Schicksal erinnert, besteht ein regelmäßiger Kontakt zu den in alle Winde verstreuten Nachfahren.
Erst im Januar war der Enkel aus Wales das letzte Mal in Wittenberg zu Gast. Begleitet von einem walisischen Fernsehteam und zusammen mit einer seiner drei Töchter sowie zwei Enkelinnen folgte er den Spuren seiner Vorfahren. Der fertige Fernsehbeitrag hatte auch innerhalb der walisischen Verwandtschaft ein reges Interesse ausgelöst. Geplant sei die Osterfahrt nach Deutschland schon lange gewesen, sagt Gruffudd gegenüber der MZ, "aber nach der Filmausstrahlung, wollten auf einmal alle mit".
Dabei ist die Fahrt alles andere als ein fröhlicher Familienausflug, auch wenn die Stimmung im Palmengarten gelöst wirkt. Schließlich folgen die Reisenden den familiären Spuren recht konsequent, wenn auch nicht chronologisch. Bevor sie in Wittenberg Station machen, führte eine Etappe der Reise nach Ravensbrück, in jenes Konzentrationslager, in dem Käthe Bosse ermordet wurde. Seine Kinder habe er nicht mit dorthin genommen, sagt Einion Gruffudd: "Sie sind noch zu jung. Aber wir werden zusammen wieder kommen, wenn sie alt genug sind." Das steht für den Bosse-Urenkel, der im Jahre 1990 kurz nach dem Mauerfall erstmals den Wurzeln der eigenen Familie auch geographisch folgte, jetzt schon fest. Ins Jüdische Museum in Berlin hat er die Kinder bereits mitgenommen.
Natürlich spiele bei einer solchen Reise immer beides eine Rolle, findet Einion Gruffudd, die entspannte Heiterkeit eines Austauschs zwischen entfernt lebenden Verwandten und die Trauer über das Schicksal der eigenen Familie im Dritten Reich. "Das lässt sich nicht voneinander trennen."
"Eine schwierige, eine prägende Geschichte", nennt auch Oliver Schulte-Vels das Schicksal der Bosse-Vorfahren in der Lutherstadt. Schulte-Vels lebt in Bonn und ist, wie er berichtet, mit den Erzählungen über den Urgroßvater aufgewachsen. Als Jugendlicher könne man die Geschichten irgendwann nicht mehr hören, gesteht er unumwunden, "und wenn man dann anfängt, sich zu interessieren, wenn man selbst nachfragen will, leben die Zeitzeugen nicht mehr". Zum Glück gebe es innerhalb der Familie einige, die sich mit der Familiengeschichte sehr engagiert auseinander setzen, Material sammeln, Informationen zusammentragen. Die Dokumentation des walisischen Fernsehensenders hat er sich selbstverständlich angesehen, "ein ruhiger, ein bewegender Film", so sein Urteil. Aber eigentlich findet der Mann, der beruflich in die Fußstapfen von Paul Bosse getreten ist und Gynäkologe wurde, eigentlich stecke in der bewegten Familiengeschichte Stoff für einen großen Spielfilm oder eine Mischung aus Dokumentation und Fiktion. Wer beim flüchtigen Blick ins Restaurant die große Runde beim Mittagsmahl sieht, ahnt davon nichts. Man muss schon etwas genauer hinschauen und hinhören. Dass dies hier und heute endlich möglich ist, ist auch den Stolpersteininitiatoren zu verdanken.