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90. Geburtstag 90. Geburtstag: Vier Kinder allein groß gezogen

Von Rüdiger Schulz 23.06.2002, 15:10

Helbra/MZ. - Ein schöner Anlass führte Kinder, Enkel und Urenkel im Helbraer Seniorenpflegeheim "Drei Linden" zusammen. Wilhelmine Czymmek feierte im Kreise ihrer Familie ihr 90. Wiegenfest. Auch Helbras Bürgermeister und Landrat Hans-Peter Sommer gehörten zu den ersten Gratulanten.

Geboren wurde die Jubilarin am 22. Juni 1912 auf einem Bauernhof in Grabowen bei Sensburg (heute: Mragowo) in Masuren. Sie war eines von elf Kindern. Drei von ihnen leben heute noch. Obwohl sie in einer Landwirtsfamilie aufwuchs wurde die Landwirtschaft nicht ihr Beruf. Früh schon ging sie in die nahe gelegene Kreisstadt und heiratete einen Telegraphenbauhandwerker. Zwischen 1935 und 1941 wurden ihre vier Kinder, drei Töchter und ein Sohn geboren. Während ihr Mann eingezogen wurde widmete sie sich der Erziehung der Kinder in ihrer von den Kriegswirren vergleichsweise unberührten ostpreußischen Heimat.

Anfang 1945 begann die Rote Armee ihre Großoffensive, die sie in wenigen Wochen über die Weichsel und die Warthe bis an die Oder bringen sollte. Der Schlussakt des "Tausendjährigen Reiches" war angebrochen. Wilhelmine Czymmeks Mann hatte sich aus den Niederlanden abgesetzt, um Frau und Kinder aus Ostpreußen herauszuholen.

Am 27. Januar 1945 wurde Sensburg Hals über Kopf evakuiert. Czymmeks flüchteten zuerst auf einem Lastkraftwagen bei grimmiger Kälte und Schneestürmen Richtung Westen.

Die "Kettenhunde" (Feldgendarmerie) trennten schließlich den Vater von der Familie, um ihn im Finale dieses sinnlosen und mörderischen Krieges noch einmal zum Einsatz zu bringen. Wilhelmine Czymmek war nun wie so viele andere auch allein mit ihren Kindern auf dem Weg ins Ungewisse. Die Russen zogen den Ring um Königsberg immer enger und schnitten den kürzeren Weg über Nogat und Weichsel Richtung Westen ab.

Czymmeks flüchteten unterdessen mit einem Omnibus zur Ostsee. Wegen des strengen Frostes war das Frische Haff zugefroren. Fahrzeuge, Fuhrwerke und Menschen brachen im Eis ein. Auch der Omnibus musste irgendwann stehen bleiben, und es ging zu Fuß weiter. Die Kinder erinnern sich an diese schreckliche Flucht noch heute sehr anschaulich. Über die Frische Nehrung erreichten sie Danzig, und von dort fuhren sie im Zug kreuz und quer durch Nordostdeutschland.

Am 17. Februar 1945 kamen Wilhelmine Czymmek, ihre drei Töchter und ihr Sohn im Mansfelder Land, in Helbra, an. Der Ehemann und Vater war zu dieser Zeit bereits vermisst und wurde später für tot erklärt. Von nun an war die Mutter auf sich allein gestellt.

Anfangs lebten die Czymmeks von der Wohlfahrt. Das reichte aber über kurz oder lang nicht aus. So musste sich Mutter Wilhelmine um Tagelohn bei den Landwirten in der Umgebung verdingen, berichtet ihr Sohn Klaus. Später fand sie eine Anstellung bei der Post. "Über zwanzig Jahre sorgte sie bei Wind und Wetter für die pünktliche Zustellung der Post", fügt Tochter Heidi hinzu. Alle Kinder haben einen Beruf gelernt. Sohn Klaus wurde Klempner und Installateur, eine Tochter Bibliothekarin, die andere Stenotypistin. Die dritte, leider schon verstorbene, Tochter hatte den Beruf einer Industriekauffrau erlernt. "Alles in allem hat unsere Mutter trotz des Hungers und der schweren Zeit viel für uns geleistet. Und es ist schön, dass sie nach einem so bewegten Leben noch so fit ist", bringt Tochter Thea Klos den Dank der Kinder an ihre Mutter auf den Punkt. "Auch unsere Kinder haben alle etwas gelernt, sind verheiratet und haben alle Arbeit", ergänzt sie.

Vor fünfzehn Jahren erlitt Wilhelmine Czymmek einen schweren Schlaganfall. Danach konnte sie nicht mehr sprechen und musste von ihren Töchtern gepflegt werden. Seit zwei Jahren nun lebt sie im Helbraer Seniorenpflegeheim. Ihr Gesundheitszustand hat sich deutlich stabilisiert. An ihrem Ehrentag nahm sie die Glückwünsche selbstverständlich im Stehen entgegen und wechselte auch mit den Gratulanten einige Worte.