Harz Harz: 1.000 Jahre und wie neu
Quedlinburg/MZ. - Vorsichtig legt Restauratorin Cornelia Hanke das dicke, mit einem Goldschmiede-Einband, Edelsteinen und einem Elfenbeinrelief geschmückte Buch auf die Unterlage. Kameras klicken, die zahlreichen Interessenten in der Quedlinburger Stiftskirche suchen nach dem besten Blick. Sekunden später wird es aufgeschlagen: das mehr als 1 000 Jahre alte Otto-Adelheid-Evangeliar, in welchem die Schrift auf den 170 Pergamentblättern noch immer gestochen scharf aussieht. "Es ist ein historischer Moment", sagt Thomas Labusiak, Domkustos in Halberstadt und Quedlinburg. Denn das Evangeliar, das im Quedlinburger Domschatz geschlossen gezeigt wird, wurde erstmals seit Jahrzehnten wieder geöffnet. Und Besucher haben nun bis zum Ostersonntag die Gelegenheit, diese Prachthandschrift geöffnet zu sehen.
Evangeliare sind liturgische Bücher mit dem Text der vier Evangelien des Neuen Testaments - den Büchern nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Sie wurden gebraucht, um die Heilige Messe zu feiern, den Gottesdienst; dabei wurde aus dem Evangeliar gelesen. Das Otto-Adelheid-Evangeliar als Prachthandschrift war dabei nicht für den ständigen Gebrauch, sondern für besondere Anlässe gedacht.
Die Schriftbilder - verwendet wurde laut Cornelia Hanke aus Schlehenrinde hergestellte Tinte - lassen erkennen, dass mehrere Schreiber an dem Evangeliar gearbeitet haben. Wer diese waren, ist nicht bekannt. Entstanden ist das Evangeliar aber wahrscheinlich in Quedlinburg, und möglicherweise waren adlige Damen des Stifts die Schreiberinnen, sagt Labusiak.
Dagegen lässt sich die Zeit der Entstehung recht genau eingrenzen: Den vier Evangelien ist nämlich ein Text zur Weihe der Osterkerze in der Osternacht beigefügt, sagt Ekkehard Steinhäuser, Theologischer Vorstand der Domschätze in Halberstadt und Quedlinburg. Und diesem schließt sich ein Fürbittgebet für Kaiser Otto III. und Äbtissin Adelheid I. - daher auch der Name des Evangeliars - sowie für Papst Silvester II. an. Otto III. starb 1002, Adelheid und Silvester kamen 999 ins Amt, so dass das Evangeliar um das Jahr 1 000 entstanden sein muss, so Labusiak. Belegt ist, dass Otto III. Ostern im Jahr 1 000 in Quedlinburg gefeiert hat, ergänzt Steinhäuser. "Also kann man vermuten, dass aus diesem Evangeliar Ostern 1 000 gelesen worden ist."
Dass die historische Prachthandschrift jetzt geöffnet worden ist, hat zwei Gründe, sagt Thomas Labusiak. Zum einen ist seit dem Totensonntag vergangenen Jahres in den beiden Domschätzen in Halberstadt und Quedlinburg die Sonderausstellung "Tod und Hoffnung - Kunst und Kult aus 1 000 Jahren" zu sehen. Die Öffnung des Evangeliars ist hier ein besonderer Höhepunkt. Zum anderen steht mit Ostern das Fest der Hoffnung bevor, so Labusiak weiter. Und in dem Evangeliar finde sich der Text für die Weihe der Osterkerze.
Auch der 14. März, an dem der Heiligen Mathilde gedacht und das Mathildenfest gefeiert wird, wurde bewusst gewählt: Sowohl Otto III. als auch Adelheid I. waren Urenkel der Königin Mathilde, die am 14. März 968 starb und in der Krypta der Quedlinburger Stiftskirche beigesetzt wurde.