Geschichte zwischen Wänden
QUEDLINBURG/MZ. - Ein paar Jahre später machte sie Bekanntschaft mit dem Inneren des Hauses - zu der Zeit war das Arbeitsamt hier untergebracht. Die gelernte Schneiderin musste sich nach ihrer Lehre dort arbeitslos melden und ahnte damals noch nicht, dass das 1924 für den Saatgut-Produzenten Hans von Dippe errichtete Haus eines Tages ihr Zuhause werden würde.
Der jungen Frau und ihrem Mann Hans Joachim Rathmann ist es zu verdanken, dass eine große Zahl interessierter Quedlinburg jetzt einen Blick hinter die Mauern der stilvollen Villa werfen durfte. Im Rahmen einer Sonderführung unter dem Thema "Geheime Orte" gewährte die Familie Rathmann nicht nur einen Einblick ins Innere des Hauses, sondern beeindruckte auch mit dem Wunsch, immer mehr über seine Geschichte zu erfahren.
Denn nach den Worten von Sybille Rathmann, die seit 16 Jahren als Stadtführerin arbeitet, ist es nicht leicht, etwas über das Haus in Erfahrung zu bringen: Die Bauunterlagen sind verschollen, und auch aus der Zeit, als das Gebäude zunächst von der sowjetischen Militäradministration und später vom Staatssicherheitsdienst genutzt wurde, ist wenig bekannt. Eher zufällig kam heraus, weiß Frau Rathmann zu berichten, dass es im Herbst 1989 Verteidigungspläne gegeben hatte - akribisch war darin festgelegt, aus welchem Fenster wohin zu schießen war. Die Pläne waren für die Teilnehmer an der Sonderführung einsehbar und riefen bei so manchem Kopfschütteln hervor. Auch die Kopien einiger Fotos aus dem Wendeherbst erzählten von der Besetzung des Hauses durch das Neue Forum, dessen Aktivisten im Gebäude vor allem leere Aktenordner vorgefunden hatten.
Im Jahr 2000 hatte Achim Rathmann, ein Rechtsanwalt aus Goslar, gemeinsam mit anderen das zu diesem Zeitpunkt bereits einige Jahre leer stehende Haus erworben. Trotz des unseligen Kapitels, das die Hausgeschichte zwischen 1946 und 1989 prägte, plagen Achim Rathmann keine unguten Gefühle. "Das Haus kann nichts dafür", sagt er und denkt, dass es vielleicht die beste Lösung sei, dass jemand von außen das Gebäude gekauft hat. Inzwischen gehören der Familie zwei Drittel der Villa: In der ersten Etage, den ehemaligen Wohnräumen der Familie Dippe, ist die Kanzlei untergebracht, die damaligen Gesellschaftsräume im Erdgeschoss bewohnen die Rathmanns.
Hans von Dippe, ein Enkel von Gustav Adolf Dippe, der die Quedlinburger Saatgut-Tradition begründete, bewohnte das Haus mit dem floralen Fassadenschmuck bis 1945. Quedlinburger Mitarbeiter der Firma waren es wohl, die eine Deportation von Hans Dippe nach Osten verhinderten. Privat enteignet wurde die Familie dennoch, die Familien Dippe und Esche gingen in den amerikanischen Sektor.
Haus und Gelände nahm die sowjetische Militäradministration in Beschlag, später zog die Stasi ein. Das Tor zum Grundstück ist noch original, so Frau Rathmann, nur konnte man damals kaum einen Blick auf das Haus erhaschen. Im Keller, wo die Stasi einst ihre Waffenkammer hatte, befindet sich heute das Archiv der Kanzlei, daneben soll es eine Arrestzelle gegeben haben. Zu Dippe-Zeiten befand sich im Kellergeschoss die Küche.
Beim Blick in die Wohnräume der Rathmanns wird deutlich, mit wie viel Liebe zum Detail sie die teilweise noch erhaltenen Bauteile restauriert und saniert haben. Die dunklen Holzpaneele, die in der Vergangenheit mehrfach überstrichen worden sind, haben nach wochenlanger geduldiger Handarbeit der Hauseigentümer ihre alte Schönheit zurückerhalten. Behutsam aufgearbeitet zeigen sich die wunderschönen Türen und Fenster sowie das Bleiglasfenster mit dem Dippeschen Familienwappen samt den typischen Blumenmotiven. Die Arbeit der Firma Ferdinand Müller ist von der Werkstatt Schneemelcher restauriert worden und ziert den Treppenaufgang von den Wohnräumen zur Kanzlei.
Neun Jahre lang lebte die Familie praktisch auf einer Baustelle, "und ich bin eigentlich immer noch nicht fertig", sieht Achim Rathmann Unvollkommenes, das die Besucher der Sonderführung jedoch nicht sahen. Sie zeigten sich begeistert von der Aufgeschlossenheit der Familie und von der Möglichkeit, dem Haus ein wenig näher zu kommen. "Ich habe gegenüber gearbeitet und hatte das Haus immer vor Augen", berichtet Sabine Marby. Zudem sei sie dabei gewesen, als das Neue Forum im Oktober 1989 Kerzen vor das Haus gestellt habe. Sie freue sich, dass es in offensichtlich liebevolle Hände gekommen sei.