Einzelhandel Einzelhandel: Verkauf auf allen Kanälen

ilsenburg/MZ - Uhren, überall Uhren. Mehr als 100 Stück liegen auf Tischen, in Regalen, zerlegt, mit und ohne Armband. Es tickt und tackt. Irgendwo dazwischen sitzt Jan Wipperling, 39, und schraubt an einem der Zeitmesser herum.
Wer das winzige Geschäft in Ilsenburg betritt, sieht diese romantische Szene aus einer Uhrmacherwerkstatt. Man könnte meinen, hier sei zwar nicht die Zeit stehen geblieben, aber die Welt noch in Ordnung.
Doch spätestens, wenn für den Austausch der Batterie für die Quartz-Uhr nur 5 Euro fällig werden, beginnen die Gedanken zu kreisen: Wie viele Batterien muss der Mann verkaufen, wie viele Armbänder kürzen, um seine dreiköpfige Familie zu ernähren? Und: Wie kommen all die kleinen inhabergeführten Geschäfte in den Fußgängerzonen in Quedlinburg, Thale oder Ilsenburg über die Runden? Gibt es ein Geheimrezept, warum die Innenstädte nicht (allein) von Filialisten dominiert werden?
Uhren und LED-Lampen
Jan Wipperling ist nicht der leicht angestaubte, tüddelige Uhrmachermeister, wie man ihn aus Kinderfilmen kennt - und er ist durchaus in der Lage, für seine Familie zu sorgen. Doch er hat zu kämpfen. Vor allem gegen die Flut von billigen Waren aus dem Internet. „Uhren laufen bei mir gar nicht mehr“, sagt Wipperling. „Die Kunden kaufen nicht mehr wegen des Service beim Einzelhändler, sondern die billigsten Modelle im Internet. Geiz ist eben geil.“
Kurz nach der Wende brummte es zwar noch so richtig - Wipperling: „Die ersten zehn Jahre waren gigantisch“ -, mittlerweile laufen in dem kleinen Ladengeschäft jedoch fast nur noch die Reparaturen. „Aber allein davon kann man halt nicht leben. Das war der Grund für meinen Online-Shop“, sagt Wipperling. Vor fünf Jahren ging er mit uhreneck.de ins Netz, vor drei Jahren mit led-focus.de, einer Plattform, auf der Wipperling LED-Taschenlampen verkauft.
Damit ist der Uhrmacher aus Ilsenburg, übrigens Anfang der 1990er-Jahre der einzige Lehrling seines Fachs in Sachsen-Anhalt, zwar Vorreiter, aber längst nicht der einzige Einzelhändler, der mit mehreren Standbeinen seinen Lebensunterhalt verdient. „Multichannel - also der Vertrieb auf allen Kanälen - ist das Thema überhaupt“, sagt Knut Bernsen, Geschäftsführer des Handelsverbandes Sachsen-Anhalt, der MZ.
Handelsverband fordert bessere Internetverbindung
„Etwa 30 Prozent der Händler bundesweit - und Sachsen-Anhalt macht da keine Ausnahme - engagieren sich bereits in dieser Weise. Und die doppelte Zahl denkt massiv darüber nach.“ Bernsen fordert, dass sich die Politik auf diese Situation einstellt: So müsse es auch auf dem Land schnelle Internetverbindungen geben, außerdem seien rechtliche Fragen zu klären.
Gute Chancen für den Online-Handel sieht Bernsen in den Bereichen Elektronik, Medien, Schuhe oder Uhren und Schmuck. Gleichzeitig bleibe aber mehr als die Hälfte der Kaufleute auch in Zukunft eher im stationären Bereich tätig: Lebensmittelhändler, Drogerien und ähnliche Geschäfte. „Und irgendwann greift alles ineinander“, sagt Bernsen.
Es müsse nicht so laufen, dass sich die Kunden beim Fachhändler ausführlich beraten lassen und dann im Internet billig kaufen. Auch der umgekehrte Weg sei möglich: Man erkundigt sich im Internet - und kauft beim Fachhändler in seiner Heimatstadt. Bernsen: „Wenn Sie in einer kleinen Stadt die nötige Kompetenz haben, dann kommen die Kunden auch zu Ihnen.“
Insgesamt sieht Bernsen den Multi-Channel-Vertrieb, wie ihn Jan Wipperling betreibt, als Chance. Gefährlich werde der Online-Handel nur für Geschäfte mit einem Beratungsdefizit, in einer unattraktiven Umgebung oder mit schlechten Öffnungszeiten. Aber die haben es ja ohnehin nicht leicht. Zum Millionär wird auch Wipperling - Geschäftsmodell hin oder her - nicht. „Ich kann meine Familie ernähren“, sagt er. „Aber reich werden wir nicht.“