Auswanderer Auswanderer in Albanien: Weltreise eines Quedlinburgers endet an Europas unbekanntem Rand
Quedlinburg/Halle (Saale) - Adnan Bajramaj umarmt, Adnan Bajramaj klopft Schultern und Adnan Bajramaj grinst über beide Backen. „Da bist du ja, Ricardo“, freut sich der Bergbauer, der mitten in der Nacht mit drei Maultieren aufgebrochen ist, um über den St. Georgs-Pass nach Dukat zu klettern.
900 Meter hoch, 725 runter, auf einer Karawanenroute, die einst den Hafen von Vlora mit dem Binnenland verband. Heute wird der Weg, den Caesars Legionen vor mehr als 2.000 Jahren auf der Jagd nach Pompeius’ Verbänden entlangmarschierten, nur noch von Ziegenherden und Wanderern genutzt.
Wanderer, deren Gepäck Adnan Bajramaj mit seinen Maultieren abholt, ehe Tourguide Ricardo Fahrig sie über Wiesen und durch Tannenwälder auf 1.132 Meter Höhe zum Pass und dann hinunter ins Shushica-Tal führt, wo Bajramaj und seine Familie leben.
Ricardo Fahrig hat sich in die Landschaft verliebt
In einem Haus mit einer Veranda, über der sich Weinreben ranken. In einem Dorf, das wie ein Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit wirkt. In einem Land, das so weit am Rande Europas liegt, dass es nicht mehr sehr weit bis zum Mond zu sein scheint.
Ricardo Fahrig hat sich in diese Landschaft verliebt, in die Leute hier, in das Unfertige, Raue. Er ist ausgewandert nach Albanien, nur 2.000 Kilometer von Deutschland entfernt, und doch weitgehend unbekannt. „Die Menschen, die Natur, die Lebensart, das ist alles faszinierend“, sagt der 30-Jährige, der in der albanischen Hauptstadt mit einheimischen Freunden zusammen eine Reiseagentur gegründet hat. „Zbulo“ heißt die, auf deutsch so viel wie „Entdecke“.
Das passt, denn Fahrig ist selbst ein Entdecker. Mit 17 war der gebürtige Quedlinburger Sachsen-Anhalts jüngster IT-Unternehmer, doch statt nach dem Abitur am Gymnasiums Stephaneum in Aschersleben studieren zu gehen, wollte er erstmal die Welt sehen. „Der Plan war, loszufahren und anzuhalten, wo es interessant ist“, erinnert er sich. Nach einem halben Jahr allerdings war klar, dass diese Reise ein Leben lang dauern würde. „Wir waren da gerade mal bis auf den Balkan gekommen.“
Und weiter ging es erst einmal auch nicht, denn Ricardo Fahrig verliebte sich in Albanien, diesen letzten weißen Flecken auf der Europakarte, einen Staat, der über Jahrzehnte vollkommen abgeschottet war. „Das Nordkorea Europas sozusagen“, sagt Fahrig, ein gängiges Vorurteil aufgreifend, das viele Besucher aus Deutschland mit in das Land zwischen Adria, Griechenland, Mazedonien, Kosovo und Montenegro bringen.
Albanien von seiner Geschichte gekennzeichnet
Bis 1985 regierte der Partisanenführer Enver Hoxha die drei Millionen Albaner diktatorisch, bis 1990 hielten seine Nachfolger am Kommunismus fest. Dann erst brach alles mit umso größerer Wucht zusammen. Eine ganze Generation suchte ihr Glück im Ausland, Dörfer starben aus, Städte verödeten.
Und kaum war am Horizont wieder Licht in Sicht, kam die nächste Krise - diesmal rissen Graumarktbanken, denen das ganze Land sein Erspartes anvertraut hatte, die kaum vom Kommunismus genesene Wirtschaft in den Abgrund. Auf den Straßen wurde geschossen, Menschen starben, Zehntausende flüchteten ins Ausland. Erst eine Uno-Friedenstruppe konnte die Lage beruhigen und den Aufstand beenden.
Dörfer haben massenweise Einwohner verloren
Zwei Jahrzehnte danach ist Albanien eine stabile Demokratie auf dem Weg in die EU, und doch immer noch gezeichnet von der Geschichte. In manchen Dörfern sind von einst 100 Familien nur noch vier oder fünf geblieben. Die Schule steht leer, der Arzt ist fort, der Laden auch. „Weg in die Stadt sind sie gezogen“, erzählt eine alte Frau an einem Brunnen in den Bergen, „in die Stadt oder nach Italien oder Deutschland.“
Sie könne es niemandem verdenken, nicht hier oben leben zu wollen, wo keine Straße hinführt und es außer Ziegenhüten keine Jobs gibt. Die Jugend müsse ihre Zukunft suchen. Sie aber bleibe. „Das ist mein Zuhause“ sagt sie mit Blick auf eines der Trockensteinhäuser inmitten grüner Erdbeerbäume.
Ricardo Fahrig, ein wanderndes Lexikon, liebt diese Momente der Begegnung, die ihm und den Touristen, die er durch die Täler des Llogara-Nationalparks und über den Balkon der Riviera führt, ein Stück unverstelltes Albanien zeigen. Das Land, ewig eingeklemmt zwischen mächtigen Nachbarn, wurde erst 1912 unabhängig. Danach folgten drei Jahrzehnte Krieg, dann vier in totaler Abschottung und drei einer Normalisierung, die weder schmerzfrei war noch vorüber ist.
Ricardo Fahrig arbeitet in Albanien für Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit
Nesip Skenduli zum Beispiel steht heute in einem großen, einstmals prächtigen Herrenhaus hoch über Gjirokaster. Die sogenannte „steinerne Stadt“ ist eine von nur zwei albanischen Städten, die den Modernisierungswahn der Hoxha-Diktatur überstand und heute zum Unesco-Welterbe zählt.
Skendulis Familie lebte 200 Jahre in dem dreistöckigen Festungsbau. Dann verfügten die Kommunisten den Auszug. Nesip Skenduli musste in eine winzige Wohnung ziehen und zuschauen, wie sein Erbe zerfiel.
Der Mann in den 60ern hat Tränen in den Augen, als er davon erzählt, wie schwierig es war, das Haus zurückzuerhalten. Und wie schwer es ist, jetzt, in der neuen Zeit, ohne jede Unterstützung öffentlicher Stellen dafür zu sorgen, dass es nach und nach wieder so wird, wie es einst war.
Die Wunden der Vergangenheit, sie lassen sich nicht heilen, höchstens verbinden, das weiß Ricardo Fahrig, der in Albanien auch für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) arbeitet. In allen Familien, in deren Häusern der Quedlinburger mit seinen Wandergruppen übernachtet, sind Väter oder Söhne zum Arbeiten in Griechenland, Italien oder Deutschland.
Albanische Kinder träumen von Deutschland
Und die jüngeren Kinder, die noch da sind, haben nur einen Wunsch: Eines Tages auch fortgehen, am liebsten nach Deutschland. Dorthin, woher Ricardo Fahrig kommt, wo die Gesellschaft fertig und der Alltag meistens überraschungsfrei ist.
Während sich Albanien an der Küste langsam in ein ganz normales Mittelmeer-Urlaubsland verwandelt, „das Skandinavier und Tschechen längst entdeckt haben“, wie Fahrig sagt, sieht es oben in den Bergen noch immer völlig anders aus.
Im Winter sind die Straßen wochenlang nicht passierbar
Manchmal fällt der elektrische Strom aus, wochenlang sind die Straßen im Winter dicht. Ricardo Fahrig, der im Urlaub am liebsten in Pakistan Berge besteigt und auch sonst immer noch nach Abenteuern sucht, hat es ausprobiert und ein halbes Jahr eingeschneit im Gebirge verbracht. Nur so, sagt er, könne man verstehen, wie Albanien funktioniere.
Die Alteingesessenen mögen den früheren Sachsen-Anhalter dafür inzwischen mindestens ebenso wie er sie. Auch im Zagoria-Tal, wo der Lehrer Mani Damani Fahrigs Wandergruppe in seinem Haus aufnimmt, ist das Hallo zur Begrüßung groß.
Der Albaner aus Limar und der Albaner aus Quedlinburg müssen Neuigkeiten austauschen, das Wetter und die Ernte besprechen, über gemeinsame Bekannte reden und natürlich über die Zukunft der Schule. „Elf Kinder hatte er letztes Jahr noch in der Schule“, erzählt Ricardo Fahrig dann, „zwei sind fertig geworden, drei weggezogen aus dem Dorf“. (mz)