1832 Klagen bei Hartz IV

Quedlinburg/Wernigerode/MZ - Die Hartz-IV-Empfänger im Landkreis Harz sind ungebremst streitfreudig: Im Jahr 2012 sind nach Angaben des Eigenbetrieb s Kommunale Beschäftigungsagentur Jobcenter Harz (Koba) 4 428 Widersprüche eingelegt worden, bei erteilten rund 180 000 Bescheiden.
Derzeit sind 2 580 Widersprüche in der Bearbeitung. Im Monat gehen etwa 360 neue ein. 60 mehr als noch im Vorjahresmonat. Darüber hinaus waren im März 1 832 Klagen vor Sozialgerichten anhängig. Bei den Klagen sieht sich die Koba im Mittelfeld. Mit 11,3 Prozent der 15 071 Bedarfsgemeinschaften liege die Koba Harz nur knapp über dem Landesdurchschnitt von 10,6 Prozent.
Vielerlei Gründe
„Die Gründe für die Einreichung von Widersprüchen und Klagen beim Jobcenter sind vielfältig“, weiß Rechtsstellenleiterin Claudia Gimpel. Mal ist es die Anrechnung von Einkommen, mal die Kosten der Unterkunft oder ein Aufhebungs- oder Rückforderungsbescheid, der nach Auffassung der Betroffenen fehlerhaft ist. Werden Leistungen vom Jobcenter abgelehnt oder aufgrund von eigenem Einkommen zurückgefordert, erheben Betroffene oft Widerspruch.
Es sind nicht nur Langzeitarbeitslose, die Leistungen von der Koba - also Hartz IV - erhalten. Es sind auch Menschen, die einer regulären Arbeit nachgehen, aber nicht so viel verdienen, dass es zum Leben reicht. Auch Selbstständige sind unter diesen sogenannten Aufstockern. Wer nachweisen kann, dass Einkommen oder Vermögen nicht zur Deckung des Lebensunterhalts reichen, erhält von der Koba Unterstützung zur Grundsicherung. Die Höhe der Leistungen für Grundbedarf, Miete und Heizkosten ist abhängig von den eigenen Geldmitteln, sprich den Einnahmen und das Ersparte.
„Die Leistungen zur Grundsicherung sind als Hilfe zur Existenzsicherung gedacht. Wird eigenes Einkommen erzielt, sinkt der Bedarf zur Unterstützung. Schon im Voraus gezahltes Geld muss dann zurückgefordert werden“, sagt die Rechtsstellenleiterin. Auf dem Tisch der Juristin landen die Akten mit den Widersprüchen gegen solche Entscheidungen. Ihre derzeit 14 Mitarbeiter bearbeiten die Widersprüche und Klagen vor den Sozialgerichten. Rund 25 Prozent, also ein Viertel der Widersprüche und Klagen, betrifft Einkommensfragen. „Wir arbeiten nach dem gesetzlich vorgegebenen Prinzip des Eingangs der Einkommenszahlung“, erläutert Claudia Gimpel. „Das bedeutet beispielsweise, dass ein Gehalt vom Mai, das erst im Juni gezahlt wird, auch erst im Juni mit den Leistungen der Koba verrechnet wird. Das führt manchmal zu Missverständnissen und Verärgerung.“ Als weiteres Beispiel für Unstimmigkeiten nennt sie die Berücksichtigung von Fahrtkosten. Laut Gesetz darf die Koba für die Fahrt zum Arbeitsplatz 20 Cent pro Kilometer vom Einkommen der Leistungsempfänger als Werbungskosten abziehen. Liegen die Spritkosten höher, fühlen sich einige Pendler benachteiligt und reichen Widerspruch ein. Für Streit sorgen oft auch die Betriebskosten. Besonders schmerzlich sei es für Leistungsempfänger, wenn sich am Ende eines Abrechnungszeitraumes ein Guthaben auf dem Konto befindet, weil sie vielleicht besonders sparsam geheizt haben. Dann prüft die Koba, welcher Teil zurückbezahlt werden muss. Da Betriebskosten als Vorschuss von der Koba bezahlt werden und nach dem Gesetz nur den tatsächlichen Bedarf decken sollen, fordert der Grundsicherungsträger zu viel gezahlte Leistungen zurück. Auch in solchen Fällen gehen Betroffene häufig in Widerspruch.
Wenn ein Bescheid aufgehoben wird, also eine Rückzahlung gefordert wird, gebe es jedoch immer eine Anhörung. „Ihre Entscheidungen treffen unsere Mitarbeiter immer nach bestem Wissen auf Basis der aktuellen Gesetzeslage“, betont Claudia Gimpel, „in vielen Fällen gibt uns das Gesetz jedoch keinen Spielraum.“ Eine Einführung von Pauschalen würde laut Sicht von Koba-Chef Dirk Michelmann dieses Problem relativieren und zu sparsamem Handeln motivieren.
Verunsicherte Richter
„Die häufige Überarbeitung des Sozialgesetzes macht die Arbeit der Koba-Mitarbeiter nicht einfach“, sagt Koba-Stabsstellenleiterin Claudia Langer. Seit Einführung der Hartz-IV-Gesetze in 2005 gab es über 60 Rechtsänderungen. Allein in 2013 wurde das zweite Sozialgesetzbuch (SGB II) bereits fünfmal geändert. „Es ist für unsere Mitarbeiter nicht leicht, immer auf dem neuesten Stand zu bleiben, wie sollen dann die Betroffenen immer alles nachvollziehen können?“, deutet sie den Spannungsbogen zwischen dem komplizierten Gesetz und der kompetenten Hilfe für die Betroffenen an. „Das Gesetz ist praktisch mit der heißen Nadel gestrickt. Deshalb besteht eine große Rechtsunsicherheit, sogar bei den Sozialrichtern selbst“, erklärt die Juristin. „Es kommt häufig vor, dass sich die Kammern der Gerichte in ihren Entscheidungen widersprechen. Sogar Richter ändern manchmal ihre Sichtweise und entscheiden in ähnlichen Fällen gegensätzlich. Oft bringen erst Entscheidungen des Bundessozialgerichts wirklich Klarheit in der Rechtssprechung.“
Die häufige Änderung der Rechtslage in den letzten Jahren trägt nach Meinung von Claudia Langer klar zur bundesweiten Klageflut gegen Jobcenter bei, denn Bescheide können heute anders lauten als noch im vergangenen Jahr. Weil Gerichtsverfahren sich mitunter Monate und Jahre hinziehen, können Betroffene, die sich in ihrem Lebensunterhalt gefährdet sehen, vorläufigen Rechtsschutz beantragen. In einem solchen Eilverfahren wird eine einstweilige Anordnung zum Streitfall erlassen, die gilt, bis das Gericht die tatsächliche Entscheidung trifft.