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Theater Naumburg Theaterspaziergang durch Naumburg auf den Spuren Kafkas

Das Theater der Domstadt lädt nach dem Roman „Der Prozess“ zu einem-Spaziergang durch die herbstdunkle Altstadt, in eine Zeitungsredaktion und in die Maria-Magdalenen-Kirche.

Von Roland H. Dippel 18.09.2024, 16:34
Leonard Wollner (2. Wächter), Robin Krakowski (Josef K.) und Hans Georg Pachmann (1. Wächter, von links) in "Auf den Spuren von Josef K." am Theater Naumburg
Leonard Wollner (2. Wächter), Robin Krakowski (Josef K.) und Hans Georg Pachmann (1. Wächter, von links) in "Auf den Spuren von Josef K." am Theater Naumburg (Foto: Biel)

Naumburg/MZ - „Stillgestanden!“ – „Keine Handys!“ – „In der Reihe bleiben!“ Das Publikum fühlte sich wie in einer Strafkolonie oder bei einem Deportationskommando. Eine halbe Stunde nach Beginn der Premiere bewegte sich der Tross aus Zuschauern, Personal und inszenierten Wachdiensten vom Theater am Salztor durch die schon herbstdunkle Naumburger Altstadt. Station zwei ist die Remise des Naumburger Tagblatts, Station drei die Spielstätte Marien-Magdelenen-Kirche.

Dort inszenierte Intendant Stefan Neugebauer vor genau zwei Jahren Franz Kafkas Novelle „Die Verwandlung“. Damals war kein Kafka-Jahr wie 2024. Aber bereits da zeigte Neugebauer für den 1924 im Alter von knapp 41 Jahren an Tuberkulose verstorbenen Schriftsteller einen nüchternen Regie-Zugriff mit Sinn für das Wesentliche. Kafka, der für das 20. und 21. Jahrhundert zum Visionär eines Kampfes der menschlichen Schräubchen in den Zahnrädern dystopischer Systeme wurde, ist in Theatern und Opernhäusern gut präsent. Von wegen Ratlosigkeit: Über die Auflösung der Irrwege seiner Figur Herr K. im unvollendeten Romanfragment „Der Prozess“ gibt es neben zig Dramenfassungen auch Opern von Gottfried von Einem (zuletzt in Radebeul) und Philip Glass (zuletzt in Hof).

Originell und einmalig

Das leichthin „Naumburger Theaterspaziergang“ genannte Projekt „Auf den Spuren von Josef K.“ ist allerdings originell und einmalig. Neugebauer hatte die Romanhandlung für fünf Darsteller konzentriert, gestrafft und mittels Kostümen in die Gegenwart versetzt. Einige Spieler übernahmen mehrere Rollen. Das steigerte die Verwirrung des eines schönen Tages aus verschwiegenen Gründen in Haft genommenen Josef K. und es trieb die Vieldeutigkeit der Handlung in den noch größeren Strudel der Irritationen.

Hans Georg Pachmann und Leonard Wollner klagen als die Wächter Franz und Wilhelm, dass der Security-Job nicht genügend zum dringlichen Lebensunterhalt abwirft. Neugebauers Verschiebung der Handlung vom Beginn des Ersten Weltkriegs ins 21. Jahrhundert geht also mit reibungsloser Logik vonstatten. Es könnte bei der „omnipräsenten Organisation“, die den unbescholtenen Prokuristen Josef K. mit der soliden Karriere vor ein undurchsichtigen Maßnahmen folgendes Tribunal zerrt, um Chiffren für „autoritäre Staaten“ oder den „Turbokapitalismus mit all seinen monopolistischen Ausprägungen“ (so Neugebauer) handeln. Herr K. haust in einem schlichten Mietzimmer, das an Nüchternheit schwerlich zu überbieten ist. In der Kirche stehen die Bänke auf beiden Seiten eines das kleine Schiff teilenden Laufstegs. Dieser und der Altar sind der Schauplatz einer dubiosen Gerichtsverhandlung. Josef K. ist in der Verkörperung durch Robin Krakowski ein noch junger Antiheld. Als Persönlichkeit wirkt er nicht sonderlich fesselnd, ja sogar leicht angegraut vom Einerlei des Alltags. Krakowski hält sich lange in der glatten Neutralität einer müden Jugendlichkeit und rebelliert erst in zugespitzter Lage altersgemäß energisch. Überhaupt wirken alle fünf Figuren trotz bunter und lebhafter Gestaltung angemessen „kafkaesk“. Selbst das Lächeln von K.s erotisch offenbar freizügiger Nachbarin Fräulein Bürstner (Ruth Weingarten) ist immer in der Ambivalenz von Herzlichkeit und Distanz.

Der Theaterspaziergang führte über die Naumburger Altstadt an verschiedene Stationen.
Der Theaterspaziergang führte über die Naumburger Altstadt an verschiedene Stationen.
(Foto: Torsten Biel)

Ute Wieckhorst zeigt eine packend vielfältige Wandlungsfähigkeit: die besorgte Gestik von K.'s Zimmerwirtin Frau Grubach, die schon hysterische Überspitzung der Ehefrau des Untersuchungsrichters und eine eiskalte Professionalität als „Prüglerin“, die Josef K. für den wie bei Kafka ins Diffuse abgleitenden Schluss einpeitscht. Markus Fenner gibt dem Untersuchungsrichter, dem Auskunftgeber sowie dem Gefängniskaplan die Physiognomie eines fast guruhaften Charismatikers.

Eine runde Ensemble-Leistung: Mit Ausnahme Fenners, der die Auslöschungsmaschinerie von Dostojewskis „Großinquisitor“ wie das diskussionswürdige Patriarchentum des Weisen Sarastro aus Mozarts „Zauberflöte“ in Kafkas „Prozess“ hineindenkt, könnten alle Figuren auch im „Tatort“ agieren.Neugebauers Sicht befreit von den nebelnden Grautönen und dem düsteren Schwarz-Weiß, das man mit Kafkas Texten assoziiert. Die Produktion leistet atmosphärische Ausnüchterung, aber das Gedankengift bleibt. Kafka wird nicht als Prophet künftiger Desorientierungsabgründe inthronisiert. Die sich in Josef K.'s Psyche und Sein einnistende Existenzangst sitzt auch in der Theaterfassung tief. Diese erzählt Kafkas „Prozess“ als Bewusstwerdung, in der Gewissheit schwindet und Desorientierung zum Dauerzustand wird.

Umzug im April

Für das kleinste Stadttheater Deutschlands gibt es allerdings eine schöne neue Gewissheit: Die ursprünglich zu Beginn der Spielzeit 2024/25 und in Etappen verschobene Eröffnung des neuen Theaterstandorts im Alten Schlachthof kann im April 2025 stattfinden. Alle bis dahin vorgesehenen Premierenprojekte bleiben stabil, als nächstes die Komödie „Nach Paris!“ von Samuel Benchetrit am 19. Oktober. Die nächsten Theaterspaziergänge finden am 20. und 21. September statt.